© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Krieg hat seine eigene Dynamik
Weniger ideologische Konzeptionen als die Zwänge der strategischen Lage: Herbert Kremp stellt in seiner Deutung der ersten Kriegsjahre 1939 bis 1941 provokante Thesen auf
Dag Krienen

Der im März 2020 im Alter von 91 Jahren verstorbene Herbert Kremp, promovierter Historiker, langjähriger Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt und seit 1985 ihr Mitherausgeber, hat sich in seinen späten Jahren der Erforschung der Geschichte der ersten zwei Jahre des Zweiten Weltkrieges zugewandt. Seine Ergebnisse noch selbst in einem geschlossenen Werk zu publizieren, war ihm nicht mehr vergönnt.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um ein aus einem Nachlaß von gut 2.900 Manuskriptseiten zusammengestelltes Werk. Eine gewisse Ordnung der Texte hat der Editor Rainer Poeschl zwar zustande gebracht und die Lesbarkeit verbessert, indem er viele der notorischen langen historischen Exkurse Kremps in den Fußnoten sowie in 17 historischen Skizzen in einem gesonderten Anhang untergebracht hat. Eine völlige Bändigung des hinterlassenen Textmaterials ist aber nur unvollkommen gelungen. Unzählige Redundanzen, thematische Sprünge und abschweifende Exkurse lassen den Leser oft den roten Faden vermissen. Sind solche Probleme bei Publikationen aus dem Nachlaß kaum zu vermeiden, stellt es einen ärgerlichen Mangel dar, daß viele der in den Fußnoten in Kurzform zitierten Quellen im Literaturverzeichnis nicht aufzufinden sind.

Trotz dieser Mängel verdient Kremps Buch Aufmerksamkeit. Seine Grundthese ist, daß sich der Zweite Weltkrieg nicht gemäß irgendwelcher großen Pläne und ideologischen Vorgaben entfaltete. Wie auch am jüngsten europäischen Fall zu studieren ist, entwickelte er als Krieg seine eigene Dynamik und seine eigene immanente Logik und konsekutive Zwänge, dem sich selbst die Mächtigsten der Kontrahenten zu beugen hatten. Bestenfalls hatten sie die Wahl zwischen einigen wenigen strategischen Optionen, die aber ihrerseits neue Handlungszwänge zur Folge hatten. 

Ein Kontinentalpakt mit Stalin gegen England scheiterte

Dies galt selbst für den deutschen Diktator Adolf Hitler. Seine militärischen Aktionen waren Reaktionen auf die Zwänge der jeweiligen Kriegslage, die ihm nur jeweils wenige Optionen boten. Seine ideologischen Wunschvorstellungen und großen Pläne spielten hingegen kaum eine Rolle. Ähnliches gilt auch für seine großen Kontrahenten Josef Stalin, Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt, deren Person und Handeln Kremp ebenfalls ausführlich untersucht, worauf hier leider nicht im Detail eingegangen werden kann. 

Bleiben wir beim deutschen Fall. Das Buch beleuchtet nur die Phase zwischen dem September 1939 und dem Scheitern der deutschen Offensive vor Moskau und der Kriegserklärung an die die USA im Dezember 1941, in der Hitler noch verschiedene strategische Optionen hatte. Kremp wendet sich explizit gegen die Idee eines Stufenplans (Andreas Hillgruber) zur Weltmacht bzw. zur Weltherrschaft, den Hitler bis Ende 1941 verfolgt haben soll, sowie gegen andere Vorstellungen, daß vor allem seine ideologischen Obsessionen seine militärische Strategie bestimmten. 

An der deutschen Schuld am Kriegsausbruch am 1. September 1939 rüttelt er nicht, betont aber, daß der Krieg gegen Polen der einzige war, den Hitler aus freiem Entschluß begann, um die Abrundung seines schon in den Jahren zuvor stark erweiterten Machtbereiches abzuschließen. Er hoffte, daß sich Briten und Franzosen damit abfinden würden. Da ihm dies die Westmächte wider Erwarten nicht durchgehen ließen, sah sich Deutschlands Diktator in einen langen Krieg verwickelt, den er zu jedem Zeitpunkt lieber (unter Einbehaltung der Beute) beendet als fortgeführt hätte.

Widerspruch dürften insbesondere Kremps Aussagen zu den Ursachen für den Entschluß zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion (Unternehmen Barbarossa) im Juni 1941 finden. Kremp geht davon aus, daß Hitler im Mai 1940 einen „Strategie-Infarkt“ erlitten hatte, da aufgrund seines Haltebefehls vor Dünkirchen die britische Expeditionsarmee über See entkommen konnte. Andernfalls hätte das britische Kabinett sich ohnehin niemals zu einem Kompromißfrieden bereitgefunden – eine These, die nicht völlig aus der Luft gegriffen, aber durchaus umstritten ist. Churchill setzte nunmehr auf die wirtschaftliche und militärische Unterstützung durch die USA. Hitler seinerseits rechnete für die Zeit ab 1942 mit deren Kriegseintritt und sah sich mit dem Problem konfrontiert, seinen Herrschaftsraum auf dem Kontinent gegen eine britisch-US-amerikanische Koalition abzusichern. Die eroberte Basis in Westeuropa allein war dazu zu schmal. Er benötigte vielmehr ein tiefes Hinterland im Osten als Rohstofflieferant. Die zukünftige Haltung der Sowjetunion, die nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 bislang als solcher fungiert hatte, war ungewiß. Es gab für Hitler nur noch zwei Optionen. Entweder den Pakt mit Stalin zu erneuern, ihm dafür aber auch neue Gewinne in Aussicht zu stellen. Oder die Sowjetunion als letzten denkbaren britischen „Festlandsdegen“ militärisch niederzuwerfen und große Teile des Landes zu besetzen, als blockadefestes ökonomisches Hinterland. 

Nach dem Abschluß des Drei-Mächte-Paktes mit Italien und Japan versuchte Berlin ernsthaft, die Sowjetunion in dieses Paktsystem („Kontinentalpakt“) einzubeziehen. Stalin wurde die Expansion zum Persischen Golf und nach Indien in Aussicht gestellt. Verhandlungen mit dem sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow im November 1940 in Berlin zeigten aber, daß Stalin als Preis für den Beitritt die Ausweitung seiner Einflußzonen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan forderte, der deutsche Interessen in diesem Raum entgegenstanden. Erst zu diesem Zeitpunkt entschied sich Hitler endgültig für die zweite Option: die Niederwerfung der Sowjetunion. Diese mußte aber noch im Jahre 1941, vor einem möglichen Eingreifen der Amerikaner in den Krieg, erfolgen. Als der deutsche Angriff Ende 1941 schließlich vor Moskau liegenblieb, hatte Hitler nach Kremps Überzeugung faktisch den Krieg verloren. 

Kremps Buch enthält noch eine ganze Reihe von anderen provokanten, aber erwägenswerten Behauptungen und Überlegungen – wie seine These, daß Stalins Terror ab 1937 die Sowjetunion nicht etwa geschwächt, sondern im Endeffekt militärisch gestärkt hätte –, die die nicht immer leichte Lektüre anregend machen. Ob es dem herrschenden volkspädagogischen Zeitgeist wirklich Einhalt gebieten kann, ist eine andere Frage.

Herbert Kremp: Morgen Grauen. Von den Anfängen des Zweiten Weltkriegs. Edition Olzog im Lau-Verlag, Reinbeck 2022, gebunden, 712 Seiten, 38 Euro