© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/22 / 10. Juni 2022

Marode Gebäude und alte Autos
Schon vor dem Krieg brauchten Naturschützer in der Ukraine und Weißrußland starke Nerven
Dieter Menke

Kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges vermittelte Gorilla (1/22), das Hausorgan der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF), deren Mitgliedern einen Hauch von Panikstimmung. Ungewißheit über das Schicksal der „Ortskräfte“ bestimmte das Lagebild. Das Lemberger Büro, wo bis dahin 15 Mitarbeiter die ZGF-Aktivitäten in den Schutzgebieten der Karpaten und in Polesien (Tiefland an der Grenze zu Weißrußland) koordiniert hatten, war geschlossen worden. Die Gebäude in allen Naturparkverwaltungen dienten Flüchtlingen als Behelfsunterkünfte. Der wissenschaftliche Betrieb reduzierte sich auf die Auswertung von Kamerafallen. Die Gefahr, diese Zwangspause für die Parkwächter könnten Wilddiebe und Holzfäller ausnutzen, ist weiter akut.

Schwerpunkt des ZGF-Engagements ist, wie zu den eng mit Bernhard Grzimeks (1909–1987) Namen verbundenen Anfängen („Serengeti darf nicht sterben“), zwar immer noch Ostafrika. Aber längst expandieren die Frankfurter auch in Osteuropa. 2013 starteten sie in den ukrainischen Karpaten ihr, sowohl in puncto Fläche als auch finanziell (16-Millionen-Euro-Etat), größtes europäisches Projekt: Hundert Kilometer südlich des galizischen Lemberg liegen die insgesamt dreizehn von der ZGF betreuten Waldschutzgebiete.

Lebensraum von Luchs, Otter, Birkhuhn, Schelladler und Elch

Von Luchsen, Wölfen, Braunbären, Rotwild, Gemsen und Wisenten bevölkert, sind sie alle in die Nationalparks und Biosphärenreservate nahe der ukrainisch-rumänischen Grenze integriert. Erst im Januar dieses Jahres konnte man in der einst ungarischen Region einen weiteren Erfolg feiern, als Präsident Wolodymyr Selenskyj per Dekret das Karpaten-Biosphärenreservat im Nationalpark „Sinewir“ um 17.000 Hektar Buchenwald erweiterte.

Ähnlich gut hatte es zur gleichen Zeit für Grzimeks Nachfolger in Polesien ausgesehen, dem auf den Territorien der Ukraine und Weißrußlands verteilten größten zusammenhängenden Feuchtgebiet Europas. Dort, wo Ende Februar russische Truppen Richtung Kiew in die Offensive gingen und Panzer über die Feuchtwiesen rollten, ist die ZGF seit 2002 bemüht, diesen einzigartigen, von Luchs, Biber, Otter, Birkhuhn, Schelladler und Elch bewohnten europäischen Lebensraum zu bewahren.

Dabei war 2007 mit der Aufwertung eines Landschaftsparks am ukrainischen Ufer des Prypjat, wo die ZGF zuerst Fuß gefaßt hatte, zum 40.000 Hektar umfassenden Nationalpark Prypjat-Stochid ein wichtiges Etappenziel erreicht. Seitdem entwickelte sich auf beiden Seiten des Dnjepr-Nebenflusses ein Netzwerk von Schutzgebieten. Ab 2019 häuften sich dann die guten Nachrichten: In diesem Jahr entstand mit 24.000 Hektar der Nobel-Nationalpark in der Region Riwne.

2021 folgte in Weißrußland die Erweiterung des Almany-Moor-Naturreservats von 94.000 auf 104.000 Hektar, das damit jetzt die vierfache Fläche von Frankfurt am Main aufweist. Maßgeblich beteiligt an diesem Zugewinn war die 1998 gegründete weißrussische Naturschutzorganisation APB-Birdlife Belarus. Mit ihr zusammen plante die ZGF, mittelfristig noch weitere 50.000 Hek­tar unter staatlichen Schutz stellen zu lassen. Wie sich dieses Unternehmen in Zukunft entwickeln werde, so rätselt Elleni Vendras, die in Minsk sitzende ZGF-Projektleiterin in Polesien, sei völlig offen und hänge vom Kriegsausgang ab.

Aber nicht nur, denn Anfang März wurde ihre Partnerorganisation APB per Gerichtsbeschluß mit der Begründung aufgelöst, sie habe durch „staatsfeindliche Aktivitäten“ die „öffentliche Ordnung“ gestört und „extremistische Propaganda“ verbreitet. Für Vendras trifft exakt das Gegenteil zu: Durch die von der ZGF bezahlte Ausstattung der staatlichen Parkverwaltung mit Autos, Motorrädern, Booten, Drohnen, Kamerafallen und Computern habe man die geordnete Verwaltung in den Schutzgebieten erheblich gestärkt. Hinzu komme die von ihr und ihrem Team organisierte Aus- und Fortbildung des wissenschaftlichen Personals und der Parkranger. Damit schaffe man elementare Voraussetzungen, um einen Überblick über die Größe der Wildtierpopulationen, ihre Verbreitung und ihre Migrationsrouten zu erhalten – Daten, die von amtlichen Stellen bisher nie erhoben worden seien.

Vendras berührt mit diesem kaum verhohlenen Vorwurf an die Adresse des Regimes von Alexander Lukaschenko eine Problematik, die auch die ZGF-Arbeit in der Ukraine in den letzten 20 Jahren zuverlässig erschwert hat, die aber erst unter heutigen Kriegsbedingungen ins helle Licht gerückt ist: unzureichende staatliche Leistungen für den Naturschutz. Es fehle an „allen Ecken und Enden“, so klagen Michael Brombacher, Referatsleiter des ZGF-Europaprogramms, und Robert Brozović, sein Co-Koordinator des Projekts Ukrainische Karpaten, an den nötigen finanziellen Mitteln, um die Mammutaufgabe zu stemmen, riesige Waldgebiete zu schützen. Viele der Verwaltungsgebäude und Rangerhütten „waren und sind in einem äußerst maroden Zustand und benötigen dringend Reparaturen“. Überall mangle es zudem an Fahrzeugen, ohne die an effektiven Schutz der Gebiete gar nicht zu denken sei. Um überhaupt eingesetzt werden zu können, führen Parkmitarbeiter oft mit ihren in der Regel musealen Privatwagen ins Gelände.

Notorische Finanzmisere im ukrainischen Naturschutzsektor

Da es nicht einmal einheitliche, funktionale Arbeitskleidung gebe, erschienen viele der mit dem nationalen Mindestlohn von 200 Euro monatlich äußerst schlecht bezahlten Ranger in alten Uniformen. So sehen die Verhältnisse in einem Land aus, das zu den größten Getreideexporteuren der Welt zählt, dessen natürliche Reichtümer aber im wesentlichen einem von Oligarchen dirigierten korrupten System zugute gekommen sind.

Und die Darstellung von Brombacher und Brozović erweckt nicht den Eindruck, als dürfte sich an der notorischen Finanzmisere im Naturschutzsektor etwas ändern. Die Kiewer Zentralregierung werde im Zuge des Wiederaufbaus nach dem Krieg andere Prioritäten setzen und nicht gerade ihr Herz für die Ökologie entdecken. Zumal an ihre Stelle sukzessive schon vor dem Krieg die deutsche Bundesregierung und die von ihr subventionierte ZGF getreten sind. Die konnte mit Berliner Geld 2021 stolze 41 geländegängige Fahrzeuge, Motorräder sowie Uniformen, Drucker und Computer kaufen, um sie an die ukrainischen Parkverwaltungen zu übergeben.

Für die nächsten Jahre wolle man, diesmal mit Steuergeldern aus dem Ampel-Etat, marode Verwaltungsgebäude renovieren, lieber jedoch neue Häuser nach ökologischen Standards errichten. Hinzu komme „Entwicklungshilfe“ für die in der Nachbarschaft der Schutzgebiete bestehenden Kommunen. Vom Staatshaushalt der Ukraine sei für sie nichts zu erwarten. Denn für den sei genauso wie für die Tourismuseinnahmen „mit einem Einbruch zu rechnen“.

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