© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Sturm und Drang
Bundesparteitag: Nach Wahlschlappen, Meuthen-Abgang und Verfassungsschutz-Beobachtung wählt die AfD am Wochenende eine neue Spitze
Christian Vollradt

Auch wenn die Fieberkurve steigt, die Emotionen „bis zum Anschlag“ hochdrehen und die parteiinternen Chatgruppen kurz vor dem Parteitag zu explodieren drohen: „Ich rechne nicht mit dem großen Knall“, meint ein erfahrener AfD-Politiker mit Blick auf das Treffen, das an diesem Freitag im sächsischen Riesa beginnt. Ein „zweites Essen“ werde es nicht geben, ist der Routinier überzeugt und winkt gelassen ab. Beim „ersten Essen“, der Parteitagsschlacht 2015 in der Ruhrgebietsmetropole, hatte sich die junge AfD faktisch gespalten, war ihr Parteigründer Bernd Lucke mit seinen Getreuen unter Buh-Rufen vom Hof gejagt worden. Verdrängt vom „Rechtsruck“ unter Frauke Petry, der zwei Jahre später ein ähnliches Schicksal beschieden war – durch Jörg Meuthen, der wiederum zu Beginn dieses Jahres hinschmiß.

Herausforderer mit eher geringen Chancen

Daß die Lage der Partei nicht rosig ist, die Euphorie vielerorts in Resignation umschlug, läßt sich nicht verhehlen (siehe die ausführliche Analyse auf Seite 7). Genausowenig, daß in jüngster Zeit viele in der Partei mit der Führung unzufrieden sind. Die einen werfen Parteichef Tino Chrupalla fehlendes Format vor, daß er sich zu stark an den Wünschen der ostdeutschen Landesverbände orientiere und mit seinen Äußerungen bei Ausbruch des Ukraine-Krieges ein „katastrophales Bild“ abgegeben habe. Auf der Gegenseite halten Chrupalles Unterstützer seinen Widersachern im noch amtierenden Vorstand vor, sie hätten den nach Meuthens Abgang einzig verbliebenen Vorsitzenden durch Illoyalität beschädigt und so die Spaltung der AfD weiter vertieft.

Eine echte Premiere ist, daß Chrupalla mit einer vollständigen Wunschliste von Vorstandskandidaten antritt. Sein „Team Zukunft“ enthält neben ihm selbst auch seine Co-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel und den bisherigen Vize Stephan Brandner aus Thüringen. Des weiteren der Haushaltspolitiker Peter Boehringer, der Vorsitzende der Jungen Alternative Carlo Clemens, Kay Gottschalk aus Nordrhein-Westfalen, dessen Bundestagskollegen Gerrit Huy, Marc Jongen, Jörn König und Martin Reichardt, der frühere MdB Roman Reusch, Ingo Hahn aus Bayern und Sebastian Maack aus Berlin. 

Sie alle, so Chrupalla, genössen sein Vertrauen und verfügten über die Unterstützung der jeweiligen Landesvorstände. Damit dürfte der amtierende Parteichef einen klaren Vorteil gegenüber seinen Herausforderern haben. Zumal seine größte Stärke die teilweise haarsträubende Vorgehensweise seiner Gegner ist. Daß etwa eine Gruppe um Bundesvorstandsmitglied Joana Cotar unmittelbar nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen mit Rückrtittsforderungen Richtung Chrupalla an die Öffentlichkeit ging, gefiel auch vielen von dessen Kritikern nicht. 

Mittlerweile kannibalisiert sich die Opposition gegen den Mann aus Sachsen selbst. Höchstens Außenseiterchancen weisen Beobachter seinem Herausforderer Norbert Kleinwächter aus Brandenburg zu. Der gehört zwar zum Vorstand der Bundestagsfraktion, hat aber den Potsdamer Landesvorstand gegen sich und ist kein Delegierter. „Die AfD befindet sich in einer Kommunikations-, einer Stil- und einer Identitätskrise. Unsere Partei braucht darum einen Neustart, eine Veränderung im Personal. Dafür trete ich an“, bekräftigt er gegnüber der JUNGEN FREIHEIT. Er selbst rechnet mit einem knappen Ergebnis. Eine Liste hat er nicht, aber einen „großen Unterstützerkreis“. Die prominentesten Namen darunter sind Cotar und ihr ehemaliger Bundestagsspitzenkandidatur-Mit-Kandidat Joachim Wundrak. 

Nicolaus Fest, Chef der AfD-Abgeordneten im EU-Parlament, möchte nur als zweiter Sprecher antreten. Als ersten Vorsitzenden könne er sich sowohl Kleinwächter als auch Chrupalla vorstellen. Fests Problem ist, daß ihm einige derer, die er auf seiner Wunschliste hatte, schon absagten. 

Ausdrücklich auch um eine mögliche Wiederaufnahme des ehemaligen Brandenburger Landeschefs Andreas Kalbitz zu verhindern, kündigte der Brandenburger AfD-Landtagsabgeordnete Dennis Hohloch eine Kandidatur für den Bundesvorstand an. Pikant: Sein Landesvorstand möchte mit einem Antrag beim Parteitag das Auftrittsverbot für den einstigen Partei-Rechtsaußen Kalbitz zurücknehmen lassen.

Offen ist, ob Thüringens Landesvorsitzender Björn Höcke für ein Vorstandsamt diesmal kandidieren wird. Die Unklarheit darüber hat Tradition. Höcke hatte öffentlich erwogen, anzutreten und dies gegenüer Vertrauten bekräftigt. In der Vergangenheit hatte er dann stets einen Rückzieher gemacht. Im „Team Zukunft“ ist er nicht, daß er gegen den Chrupalla antritt, gilt als höchst unwahrscheinlich. Eher könnte er mit einem Posten in der „Kommission zur Vorbereitung einer Parteistrukturreform“ liebäugeln, die einem Antrag zufolge eingerichtet werden soll. Die Ungewißheit ist Höckes Kalkül. Nach wie vor rechnet sich mancher aus dem liberalkonservativen Lager Chancen für den Fall aus, im Duell gegen den Polarisiserer aus Thüringen anzutreten; für manche bliebe es die wohl einzige Chance, (wieder) in den Bundesvorstand zu kommen. Mit einem Offenhalten bis zum Schluß würde Höcke ein Antreten innerparteilicher Gegner schwierig machen. Beobachter halten es für möglich, daß es Vertretern des ehemaligen Flügels mittlerweile wichtiger ist, bestimmte Vertreter des gegnerischen Lagers von der Parteispitze fernzuhalten als eigene Leute dorthin zu entsenden. 

Daß Parteichef Chrupalla seine Kandidatenliste genauso wie gewünscht durchbekommt, gilt als nicht sicher. „Ein Parteitag ohne Überraschungen ist kein AfD-Parteitag“, so der eingangs bereits zitierte Funktionär.

Foto: Delegierte auf dem Bundesparteitag der AfD (2021 in Dresden): „Emotionen bis zum Anschlag – aber kein großer Knall“