© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Nachspiel der Woche
Das ist nicht wurst
Christian Vollradt

Die Sache scheint äußerst heikel zu sein, auch wenn nicht jedermann außerhalb Frankens sie versteht. Im beschaulichen Städtchen Coburg gilt ein strenges Regiment, wenn es um die Wurst geht. Die Coburger Bratwurstrichtlinie ist Jahrhunderte alt und besagt, daß nur an einer bestimmten Stelle des Marktplatzes von einem kleinen Personenkreis Würste gebraten und feilgeboten werden dürfen. Nur acht Frauen und Männer sind es, und die müssen nicht nur (fast) alles übers Würstebraten, sondern auch über Coburg wissen. Nun aber wurden zu Pfingsten auswärtige Brater im Allerheiligsten gesichtet. Mit Würsten aus – Schreck laß nach – Bad Staffelstein, das rund 20 Kilometer entfernt liegt. Schuld an der ungebetenen und richtlinienwidrigen Konkurrenz war nach Meinung der Traditionswahrer der Coburger Convent, ein Dachverband schlagender Studentenverbindungen. Nach coronabedingter Abwesenheit konnte der seinen traditionellen Pfingstkongreß endlich wieder in der Vestestadt stattfinden lassen. Und beim Marktfest muß für das leibliche Wohl gesorgt werden. Denn wer Bier trinkt, bekommt Hunger; wer viel Bier trinkt, bekommt mehr Hunger. Und man tritt den Herren Landsmann- und Turnerschaftern sicher nicht zu nahe, wenn man feststellt, daß ihr Treffen kein Symposion für Abstinenzler ist. So war erlaubt, was satt macht. Das Nachspiel in den Lokalmedien samt gegenseitigen Schuldzuweisungen zeigt, daß man dort von der sonst üblichen Diversität im Kühlregal nichts zu halten scheint, wo eine Leberwurst längst keine Leber mehr, noch nicht einmal Spuren von Schwein oder Rind enthalten muß, sondern auch aus pürierten Leguminosen bestehen kann. Ginge es nicht um Würste, sondern um Menschen, wäre die fleischbezogene Staffelsteinfeindlichkeit der oberfränkischen Grill-Sittenwächter wohl längst ein Fall für den Verfassungsschutz.