© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Zettels Raum
Historisches Dokument: Eine Notiz aus der legendären Pressekonferenz vor dem Mauerfall sorgt für juristischen Streit / Hat der Bund für etwas gezahlt, das ihm schon gehörte?
Jörg Kürschner

Es ist wohl eine der berühmtesten Szenen der deutschen Geschichte: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort ... unverzüglich.“ Stammelnd versuchte SED-Funktionär Günter Schabowski am 9. November 1989 in Ost-Berlin Journalisten die Einzelheiten des neuen Gesetzes für mehr Reisefreiheit zu erläutern, mit dem die DDR-Staatspartei die Proteste der Bevölkerung dämpfen wollte. Ins kollektive Gedächtnis der Deutschen eingebrannt hat sich die eigentlich vollkommen dröge Pressekonferenz durch das grundstürzende Ereignis, das ihr noch am selben Abend folgte: den Fall der Mauer. 

Weil Schabowskis Gestammel im Fernsehen übertragen worden war und er in der Hektik übersehen hatte, daß die Reiseregelung erst tags darauf offiziell in Kraft treten sollte, „fluteten“ Tausende von Menschen die Grenzübergänge nach Berlin (West); die unvorbereiteten und überraschten Grenzsoldaten waren fassungslos und überfordert, da ohne klare Befehle. 28 Jahre nach dem Bau ihres „antifaschistischen Schutzwalls“ war die DDR-Diktatur am Ende, der kleinere deutsche Teilstaat Vergangenheit.

Nun aber, fast 33 Jahre nach der historischen Pressekonferenz, gibt es Streit über den von Schabowski damals verwendeten Sprechzettel. Seit 2015 können die Besucher des Hauses der Geschichte (HdG) in Bonn das graubraune Original des Zettels bestaunen, auf dem sich das Mitglied des SED-Politbüros handschriftliche Notizen zur neuen Ausreiseregelung und der Ausgabe von Visa gemacht hatte. Daß der Weg des wichtigen Zettels nach 1989 ungeklärt blieb und auch dessen Rechtsqualität strittig ist, ist mehr als eine Posse im Vereinigungsprozeß.

Rückblick. Vor sieben Jahren gelang es dem Museum, das Original von einem sogenannten Zweitverkäufer für 25.000 Euro zu erwerben. Dieser hatte das Stück Papier von einem Erstverkäufer gekauft. Während dieser einverstanden war, daß sein Name veröffentlicht wird, will der Zweitverkäufer dies nicht. Das ließ einen Journalisten der Bild-Zeitung nicht ruhen. Er klagte vor dem Verwaltungsgericht Köln auf Nennung des Namens. Mit Erfolg. Das Auskunftsinteresse der Presse wiege höher, da das HdG aufgrund der Förderung mit öffentlichen Geldern Transparenz- und Rechenschaftspflichten zu beachten habe. Der Wortlaut der Kaufvereinbarung, den der Journalist ebenfalls einsehen wollte, muß allerdings nicht veröffentlicht werden. 

Daß der Ankauf des Schabowski-Zettels ohne die zugesicherte Anonymität möglicherweise nicht geklappt hätte, wie das Museum geltend gemacht hatte, überzeugte die Richter nicht. Das HdG, vertreten durch die angesehene Kanzlei Redeker, Sellner, Dahs, die auch anwaltlich für das Bundesamt für Verfassungsschutz tätig ist, hat beim Oberverwaltungsgericht Münster Antrag auf Zulassung der Berufung gestellt. Im Spätsommer könnte eine Entscheidung fallen. Dann dürfte Klarheit bestehen, ob der Verkauf des historischen Zettels rechtmäßig war. 

Unklar ist bis heute, was mit dem berühmt gewordenen Schriftstück nach 1989 geschah. Schabowskis Witwe Irina hatte sich 2015, dem Todesjahr ihres Mannes, empört: „Das ist der kaltblütige Verkauf einer gestohlenen Sache.“ Offenbar sollen Bekannte Schabowskis den Zettel und andere Dokumente Anfang der neunziger Jahre ausgeliehen, diese aber nie zurückgegeben haben. Daß der Zettel ihres Mannes in Bonn gezeigt wird, mißfällt der Witwe: „Mir geht es vor allem darum, daß der Zettel in Berlin ausgestellt wird. Hier gehört er hin und nicht nach Bonn.“

„Gehört nach Berlin und nicht nach Bonn“

Während das Original bis 2015 verschwunden blieb, habe Schabowski dem HdG bereits Mitte der neunziger Jahre eine Kopie seines Zettels überlassen, sagte dessen Gründungsdirektor Hermann Schäfer der JUNGEN FREIHEIT. Er äußert sich seit seinem Ausscheiden zwar grundsätzlich nicht mehr zur Museumspolitik des HdG, weiß aber, daß die Besucher das Schriftstück zu seiner Freude all die Jahre mit großer Aufmerksamkeit betrachten. In seiner langjährigen Amtszeit konnte der renommierte Historiker eigene, persönliche Erfahrungen mit dem einstigen SED-Mann sammeln, den er als „nett und umgänglich“ beschreibt. Der „Maueröffner“ habe im HdG als Zeitzeuge über die Umstände der Pressekonferenz berichtet, erinnert sich Schäfer.

Seiner Meinung nach sind hinsichtlich der rechtlichen Qualität des Zettels Zweifel berechtigt: „Schabowski war seit dem 6. November ‘Sekretär für Informationswesen’ und hat die Pressekonferenz drei Tage später im Auftrag des SED-Zentralkomitees abgehalten. Damit lag staatliches Handeln vor. Der Zettel ist also kein privates Papier. Nach dem Provenienzprinzip steht der Bundesrepublik als Rechtsnachfolgerin der DDR ein Herausgabeanspruch zu.“ 

Es gibt strenge Richtlinien für die Behandlung von ministeriellem Schriftgut, nach denen allenfalls eine Kopie privat behalten werden darf. Demnach hätte das HdG den Schabowski-Zettel nicht ankaufen dürfen, da dieser mit dem Ende der DDR automatisch der Bundesrepublik gehört hätte. Handelt es sich also um ein dienstliches Schriftstück, das der SED-Politiker im Amt zur Vorbereitung seiner historischen Pressekonferenz gefertigt hat? Obwohl es ein Stück Papier war, ohne amtlichen Aufdruck. Ein normaler Zettel. Das für die Aufbewahrung von ministeriellen Akten zuständige Bundesarchiv hatte den Ankauf seinerzeit mit dem HdG abgestimmt.

Der Sprecher des Bundesarchivs, Elmar Kramer, erklärte gegenüber der JF, man könne „nicht zwangsläufig“ davon ausgehen, „daß es sich bei einem Notizzettel nicht um einen behördenöffentlichen Vermerk und damit auch nicht um staatliches Schriftgut handelt“. Und mußte der Kaufpreis von 25.000 Euro wirklich gezahlt werden, war doch das Haus der Geschichte mit der Kopie des Notizzettels 20 Jahre lang gegenüber seinen Besuchern gut gefahren? „Ein Museum lebt von Original-Objekten und dieser Zettel ist nicht irgendeiner“, kommentierte HdG-Sprecher Peter Hoffmann lakonisch die Anfrage. 





Stammeln mit Folgen

Günter Schabowski (1929–2015), seit 1984 Mitglied im Politbüro des Zentralkomitees (ZK) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), informierte am 9. November 1989 die Medien im Ost-Berliner Internationalen Pressezentrum über die Ergebnisse der Politbürositzung. Um 18.53 Uhr fällt der denkwürdige Satz: „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen. ... Also, Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt ... Das tritt nach meiner Kenntnis, ähh, ist das sofort, unverzüglich.“ Die DDR-Nachrichtenagentur verbreitet Einzelheiten der von Schabowski verkündeten Reiseregelung. Die westliche Agentur AP verbreitet als Eilmeldung: „DDR öffnet Grenze“. Unter derselben Schlagzeile beginnt um 20 Uhr die „Tagesschau“ in der ARD. An den Grenzübergängen –etwa an der Bornholmer Straße – versammeln sich die ersten Menschen, gegen 21 Uhr sind dort bereits mehr als 1.000, die „Tor auf! Tor auf“ rufen. Unter dem Druck der Menschenmasse öffnet Oberstleutnant Harald Jäger, ohne daß er dazu einen Befehl hat, gegen 23 Uhr den Schlagbaum. (vo) 

Fotos: Feiernde am Abend des 9. November 1989 auf der Mauer vor dem Brandenburger Tor in Berlin: Staatliches Handeln; Politbüro-Mitglied Günter Schabowski bei der denkwürdigen Pressekonferenz 1989: Der „Maueröffner“ stand als Zeitzeuge immer wieder Rede und Antwort; Foto des originalen Schabowski-Zettels im Bonner Haus der Geschichte: „Das ist der kaltblütige Verkauf einer gestohlenen Sache“