© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Ein auf Sand gebauter Staat
Libyen: Neue Gefechte in Tripolis und der Streit um die Präsidentschaftswahl erschüttern das Land in der Sahara
Marc Zoellner

Nach schweren Ausschreitungen wächst in Libyen erneut die Angst vor einem Bürgerkrieg: Mehrere Stunden lang hatten sich bewaffnete Milizen vergangenen Freitag im Zentrum der libyschen Hauptstadt Tripolis erbitterte Feuergefechte geliefert. Mindestens vier unbeteiligte Zivilisten wurden bei den Kämpfen verletzt, ebenso soll einer der Milizionäre getötet worden sein. An den Kämpfen beteiligt waren nach Aussagen des katarischen Nachrichtensenders Al Jazeera zwei der einflußreichsten paramilitärischen Gruppierungen des Landes – einerseits die islamistische Nawasi-Brigade, auf der anderen Seite die Stability Support Force (SSF). Letztere ist ein Sammelbecken junger Milizionäre, die bis zum Waffenstillstand vom Herbst 2020 aufseiten der Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA) die Hauptstadt Tripolis gegen die Truppen des Brigadegenerals Chalifa Haftar und der Libysch-Nationalen Armee (LNA), dem bewaffneten Arm des libyschen Abgeordnetenrats, verteidigt hatten.

Auf den ersten Blick ist diese Eskalation verwunderlich. Immerhin stand auch die Nawasi-Brigade bis vergangenes Jahr noch loyal zur GNA. Doch die fragile Allianz der beiden Milizen zerbrach zuletzt mit der Aufkündigung der von der GNA versprochenen freien Präsidentschaftswahl, die sämtliche Bürgerkriegsparteien für den 24. Dezember 2021 festgelegt hatten. Die GNA, so gehört zur Entwirrung der libyschen Fronten erklärt, ist die von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannte Regierung Libyens mit Sitz in Tripolis. Faktisch ist Libyen allerdings in drei Teile zerfallen: In Tobruk im Osten residiert das libysche Parlament, die Abgeordnetenkammer, die ihre Macht auf die libysche Armee, die LNA, sowie auf den Einfluß Chalifa Haftars stützt. Der unwirtliche Süden wird von marodierenden Banden, Tuaregstämmen und Terrorzellen der al-Qaida im Maghreb (AQIM) kontrolliert.

Ein Vormarsch Haftars und der LNA, der von Ägypten, dem Sudan sowie von russischen Söldnern der Gruppe Wagner unterstützt wurde und als Ziel die Einnahme der Hauptstadt Tripolis hatte, scheiterte. Die GNA gewann damals die militärische Unterstützung der Türkei und islamistischer Milizionäre aus der syrischen Provinz Idlib. Die beiden Seiten einigten sich auf einen Waffenstillstand und begründeten die Regierung der Nationalen Einheit (GNU), die im März vergangenen Jahres den Diplomaten Mohamed al-Menfi zum Staatsoberhaupt und den Unternehmer Abdul Hamid Dbeiba zum Ministerpräsidenten der GNU wählte. Dbeiba wurde von der GNU beauftragt, für Libyen freie Präsidentschaftswahlen bis Jahresende 2021 zu organisieren; nur bis zu diesem Stichtag gälte sein Mandat als Ministerpräsident. Doch der Deal zwischen den Konfliktparteien platzte – nur zwei Tage vor dem vereinbarten Wahltermin ließ Dbeiba die Wahl angeblichen aus Sicherheitsgründen auf unbestimmte Zeit verschieben. Im Januar konkretisierte Dbeiba, Libyen benötige vor einer Wahl eine Verfassung, im Februar stellte er den Juni als neuen Wahltermin in Aussicht.

Um die politische Lage nicht weiter zu verschärfen, erkannten die USA und eine Reihe europäischer Staaten, darunter Frankreich, Italien, Deutschland und Großbritannien, Dbeiba als Interimsregierungschef bis zur Abhaltung neuer Wahlen an. Überraschend verbündete Haftar sich daraufhin mit dem ehemaligen Innenminister der GNA, Fathi Baschagha, der ebenso wie der Brigadegeneral auf der Liste zur Präsidentschaftswahl vom Dezember 2021 gestanden hätte, und ließ den Tobruker Abgeordnetenrat Baschagha diesen Februar zum neuen Ministerpräsidenten ausrufen. Fast zwei Jahre angestrengter politischer Verhandlungen waren mit der Ernennung schlußendlich gescheitert. So kommentierte auch Anas El Gomati, Chef der in Libyen einflußreichen Denkfabrik Sadeq Institute: „Die Nachricht des Tages. Libyen hat zwei Ministerpräsidenten. Mal wieder. Murmeltiertag.“

UN lädt die Konfliktparteien zu Verhandlungen nach Kairo ein

Für Baschagha, Haftar und den Abgeordnetenrat endete Dbeibas Amtszeit am 24. Dezember 2021. Baschaghas Ernennung im Februar erfolgte nur Stunden nach einem gescheiterten Anschlag auf Dbeiba. „Die Wahl einer neuen Regierung durch den Abgeordnetenrat ist ein neuer Versuch, in Tripolis mit Gewalt Fuß zu fassen“, erklärte dieser mit Verweis auf Haftars vormalige Militäroffensive. „Wir akzeptieren keine neue Übergangszeit oder Parallelregierung.“ Ein erster Versuch Baschaghas, zu Gesprächen nach Tripolis zu reisen, mußte bereits im Mai nach dem Ausbruch von Gefechten zwischen verfeindeten Milizen abgebrochen werden. Den Sitz seiner Regierung verlegte Baschagha daraufhin in die vom Abgeordnetenrat kontrollierte Stadt Sirte unweit der Konfliktgrenze.

Um den festgefahrenen Gesprächen neue Impulse zu geben und insbsondere auch weitere Ausschreitungen wie jene vom vergangenen Freitag zu verhindern, luden die Vereinten Nationen beide Konfliktparteien am Sonntag zur Gesprächsrunde nach Kairo ein. Verhandelt werden sollen dabei insbesondere jene Artikel des libyschen Verfassungsentwurfs, die sich mit den Modalitäten einer künftigen Präsidentschaftswahl befassen. „Nach elf langen Jahren der Teilung, des Konflikts und des Chaos ist das libysche Volk erschöpft“, ermahnte die Vorsitzende der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL), Stephanie Williams, die Teilnehmer in ihrer Eröffnungsrede. „Sie haben jetzt die echte Gelegenheit und ebenso den ernsthaften Auftrag, ihnen wieder Hoffnung zu geben.“ Die Kairoer Gespräche sind bis zum 19. Juni anberaumt. Für die diesen Monat angekündigten Präsidentschaftswahlen in Libyen bedeutet dies eine weitere tragische Verschiebung auf unbestimmte Zeit.

Foto: Impression aus dem Stadtzentrum von Tripolis Mitte Mai: Die Idylle täuscht. Die auffliegenden Tauben sind definitiv keine Friedenstauben