© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Weisen starke ETF-Leerverkäufe auf eine kommende Stagflation hin?
Voreiliger Pessimismus
Thomas Kirchner

Aktien und Anleihen sind im Sinkflug, doch die Leerverkäufer sitzen noch nicht auf der Anklagebank. Ob Finanzkrise oder Wirecard – Shortsellern wird gern der Schwarze Peter zugeschoben. Bei einem Leerverkauf verkauft ein Anleger ein geliehenes Wertpapier mit der Absicht, es später zu einem günstigeren Kurs zurückzukaufen. Bei fallenden Kursen entsteht ein Gewinn, bei steigenden ein Verlust. Der Finanzdatenanbieter S3 Partners hat nun nach Auswertung von Daten der US-Wertpapieraufsicht SEC mitgeteilt, Hedgefonds hätten börsennotierte Fonds (ETF) auf große Aktienindices im Wert von 250 Milliarden Dollar leerverkauft.

Das klingt bedrohlich, doch die Daten sind von begrenzter Aussagekraft, denn nur Privatanleger und kleinere Hedgefonds nutzen ETFs, um auf fallende Kurse zu setzen. Wer kann, nutzt Derivate. Ein Grund dafür sind die hohen Gebühren. Denn um einen ETF verkaufen zu können, muß man ihn erst einmal haben. Man muß sich den ETF leihen – viele Makler bieten diesen Service vollautomatisiert. Doch der Verleiher läßt sich dies vergüten. Die anfallenden Leihgebühren liegen bei ETFs deutlich über dem für Einzelwerte üblichen Niveau. Microsoft, Tesla oder Microsoft, die größten Werte im S&P-500-Index, werden bei einem großen US-Makler derzeit für eine Jahresgebühr von 0,25 Prozent des Kurswerts an Leerverkäufer verliehen. Die Leihe des ETF für den New Yorker S&P 500 kostet hingegen 0,33 Prozent; der ETF für den Technologieindex Nasdaq kostet 0,43 Prozent jährlich. ETFs zu weniger geläufigen Indices können ein bis drei Prozent kosten.

Günstiger als ein Leerverkauf des ETF wäre also der Leerverkauf aller 500 S&P-Aktien oder der 100 Nasdaq-Einzelwerte. Doch dafür braucht man ein Anlagevolumen, das die Möglichkeiten der meisten Privatanleger und der vielen kleinen Hedgefonds überschreitet. Derivate sind eine billige Option, die aber je nach Komplexität nur von Großanlegern genutzt wird. Die Zahlen untermauern dies: 2,5 Prozent aller Aktien im S&P 500 sind leerverkauft. Bei einem Gesamtwert des Index von 40 Billionen Dollar sind das also Aktien im Wert von rund einer Billion Dollar. Dazu kommen Leerverkäufe durch Derivate, die eine noch höhere Summe ausmachen dürften. Die 250 Milliarden Dollar, die über ETFs leerverkauft wurden, sind also nur eine Randerscheinung. Aus einem so kleinen Ausschnitt des Börsengeschehens einen allgemeinen Pessimismus abzuleiten ist voreilig.

Dennoch verbergen sich interessante Beobachtungen in den Daten zu ETF-Leerverkäufen. Während die Leerverkäufe bei ETFs auf Aktienindices zugenommen haben, wurden die auf Anleihenindices zuletzt reduziert. Dies deutet auf die zunehmende Akzeptanz der These, daß die Wirtschaft auf eine Stagflation zuläuft. Wegen der stagnierenden Wirtschaft würden Aktien schwächeln, und gleichzeitig müßten die Zentralbanken Zinserhöhungen aussetzen oder gar zurücknehmen, um die Wirtschaft nicht völlig abzuwürgen. Bei einer stagnierenden Wirtschaft hätte die hohe Inflation dann freien Lauf. Optimisten verweisen auf künftigen Kaufdruck, wenn Leerverkäufer früher oder später die verkauften Aktien zurückkaufen und an den Verleiher liefern. Dieser Effekt mag Kursverluste abmildern, doch ist das Volumen der Leerverkäufe zu gering, um sie völlig zu verhindern. Wichtiger wären Umschichtungen von Anleihen zu Aktien, sollte es wie im Corona-März 2020 zu starken Kursrückgängen kommen.