© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Pekinger Hintergedanken
Wirtschaftspolitik: Eine extrem ungleiche chinesisch-russische Partnerschaft / Grenzenlose Freundschaft oder grenzenloses Mißtrauen?
Albrecht Rothacher

Ähnlich wie sich Europa unter den Nato-Schutzschild und in die Arme der USA flüchtet, unterwirft sich Rußland China – und das nicht erst seit dem Ukraine-Überfall. Zu Beginn der Olympischen Winterspiele am 4. Februar unterschrieb Wladimir Putin 15 Abkommen, darunter die Planung für den Bau einer dritten Gas-Pipeline aus Sibirien. Die in Peking bekundete „grenzenlose Freundschaft“ ist freilich kein Militärbündnis, denn dafür ist China nicht zu haben. Der Termin für den Angriff auf die Ukraine wurde allerdings auf Wunsch Pekings auf den 24. Februar verschoben. Beim Einmarsch in der abtrünnigen georgischen Provinz Südossetien, der zeitgleich mit den Pekinger Sommerspielen am 8. August 2008 begann, hatte der russische Präsident noch nicht soviel Rücksicht genommen.

Neben den westlichen Sanktionen, die seit der Krim-Annexion 2014 Moskaus Zugang zu Hochtechnologien für seine Rüstung und Ölförderung und nun auch zu internationalen Finanzmärkten sperren, sind der gemeinsame Haß auf die USA und der westliche Anspruch auf Universalnormen für die forcierte Annäherung verantwortlich. Putin wie Staats- und KP-Chef Xi Jinping halten „den Westen“, besonders seit dem überstürzten Abzug aus Afghanistan und Syrien, für schwach, dekadent und anmaßend. Dabei ist das Verhältnis der beiden Atommächte asymmetrisch: Rußland als flächenmäßig größtes Land lag 2020 laut Weltbank mit einem Bruttoinlandsprodukt von 1,48 Billionen Dollar global nur auf Rang 11 – knapp vor Brasilien und weit hinter Italien (1,89 Billionen) oder Deutschland (3,8 Billionen).

China mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern hat eine zehnmal so große Wirtschaftskraft (14,7 Billionen Dollar). Dazu hat Rußland mit seinen offiziell 145 Millionen Einwohnern ein gewaltiges demographisches Problem: hohe Sterberaten (die Gefallenenzahlen noch nicht mitgerechnet), eine Lebenserwartung bei Männern von nur 66 Jahren und eine Fertilitätsrate von 1,5 Kindern pro Frau. Putin kaschiert das, indem er Russen aus Zentral­asien und die Bewohner der Krim und des Donbass dazuaddiert. Rußland dürfte im Jahr 2050 mit unter 100 Millionen weniger Einwohner haben als die Türkei.

Vom billigen Massenproduzenten zum entwickelten Industrieland

China hat sich binnen zweier Jahrzehnte von einem Billigwarenproduzenten mit Hungerlöhnen zu einem breit aufgestellten Industrieland mit wettbewerbsfähigen Qualitätsprodukten gemausert. Beide Länder stehlen gern High-Tech – doch die Chinesen entwickeln sie auch zivil weiter. Rußland blieb ein Rohstofflieferant, dessen einzige exportstarke Industrie der Rüstungssektor ist. Andere Industrien und Dienstleistungen blieben unterentwickelt. Die russischen Oligarchen verschoben ihre Milliarden wegen der Rechtsunsicherheit lieber ins Ausland, statt zu investieren. Mittelständler bekommen keine Kredite von den Staatsbanken, und wenn sie dennoch erfolgreich sind, werden sie von korrupten Steuereintreibern, Apparatschiks und mafiösen Strukturen erpreßt und ausgeplündert. Das russische BIP pro Kopf liegt mit 10.127 Dollar – trotz der glitzernden Fassaden von Moskau und Sankt Petersburg – auf dem Niveau von Bulgarien.

Während Putin bislang nur die slawischen Republiken der einstigen Sowjetunion zum Bestandteil der Russischen Föderation machen will, strebt Xi nach einer Ablösung der USA als Weltmacht bis 2050. Da kommt ein Juniorpartner, dessen Rohstofflager im dünnbesiedelten Sibirien an Chinas Nordgrenze liegen, gerade recht. Und im Gegensatz zum Indischen Ozean und der Straße von Malakka bieten die Russen sichere Land-Transportwege. Ohnehin kann China historische Ansprüche auf Ostsibirien geltend machen, denn das Zarenreich hatte dieses Gebiet 1858 in den Ungleichen Verträgen (1858/60) den damals schwachen Chinesen abgetrotzt.

Heute liefert Rußland wie ein Entwicklungsland Rohöl, Gas, Kohle, Metalle, Holz, Getreide, Ölsaaten, Soja, Rindfleisch und Fisch – aus China werden dafür IT- und Elektrogeräte, Maschinen, Textilien und diverse Billigwaren bezogen. Mit 26 Prozent seiner Kohle- und 15 Prozent seiner Ölimporte ist Rußland Chinas zweitwichtigster Energielieferant – schließlich basiert die Stromerzeugung zu 60 Prozent weiter auf Kohlekraftwerken. Doch für den gesamten Außenhandel Chinas beträgt der Anteil Rußlands nur 2,4 Prozent. Umgekehrt ist der Handel mit China für Rußland, das seit dem Ukraine-Krieg von seinen europäischen Märkten weitgehend abgeschnitten ist, mit derzeit erst 18 Prozent nun wesentlich wichtiger.

Seit 2019 erhält China – nach gut zwei Jahrzehnten zäher Verhandlungen mit Gazprom über Preise und Konditionen eines 30jährigen Liefervertrages – sieben Prozent seines Erdgases über die Jakutien-Heihe-Pipeline Sila Sibiri („Kraft Sibiriens“) in die Mandschurei. Die Altai-Pipeline (Sila Sibiri 2), über die Gas via Mongolei in die Uiguren-Provinz Xinjiang fließen soll, ist im Bau. Sila Sibiri 3, die Gas aus der nördlich von Japan liegenden Insel Sachalin liefern soll, wurde am 4. Februar in Peking vereinbart. In Wladiwostok entsteht zudem ein riesiges Flüssigerdgas-Terminal für LNG-Exporte via Schiff. Auf der nordsibirischen Halbinsel Jamal an der Mündung des Ob, wo unter noch ewigem Eis und Schnee riesige Öl- und Gasvorräte schlummern, die den Energiebedarf Deutschlands für die nächsten 250 Jahre locker decken könnten, wurden zudem neue Lagerstätten erschlossen.

Die künftigen Herren aus Asien lassen sich nicht mehr aufhalten

Daran beteiligten sich ursprünglich die russische Nowatek (50,1 Prozent), die französische TotalEnergies SE und der chinesische Staatskonzern CNPC (je 20 Prozent) sowie der chinesische Seidenstraßenfonds (Silk Road Fund/SRF; 9,9 Prozent). Das LNG von dort soll über den neuen Hafenterminal Sabetta auf der – dank Klimawandel künftig wohl ganzjährig eisfreien – Nordostpassage per Tanker Richtung Pazifik (Asien/Ozeanien) beziehungsweise Atlantik (Europa) geliefert werden. Da westliche Finanzen und Technologien seit 2014 blockiert sind, sprang China gern ein. Seit dem Jahr 2000 hat Rußland als größter Empfänger von Chinas „Auslandshilfen“ etwa 37 Milliarden Dollar an Krediten für solche Energieprojekte erhalten.

Zusätzlich baut China seit 2020 eine Autobahnbrücke über den Grenzfluß Amur von der Millionenstadt Heihe in die russische Provinzhauptstadt Blagoweschtschensk, wo es im Sommer 27 Grad heiß und im Winter minus 27 Grad kalt ist. Ziel ist, die Autobahn über Chabarowsk bis nach Wladiwostok zu verlängern, um einen Pazifikzugang für seine drei mandschurischen Industrieprovinzen zu gewinnen. Diese Investitionen im sich langsam entvölkernden Sibirien sind nicht uneigennützig. Es gibt schon eine unübersehbare legale und illegale chinesische Zuwanderung fleißiger Chinesen (im Jahr 1900 wurde sie von den Amur-Kosaken vertrieben), die sich nicht wie viele Sibirier schon tagsüber dem Trunk hingeben. Gleichzeitig wird Sibirien wirtschaftlich von chinesischen Investoren abhängig, die sich schon jetzt wie die Herren im Lande aufführen und sich zum Beispiel beim Abholzen riesiger Waldflächen mit großzügigen Bestechungsgeldern vor dem eigentlich vorgeschriebenen Wiederaufforsten drücken.

Die politische Willfährigkeit zeigte sich mehrfach: Putin trat schon 2005 die Damanski-Insel (Zhenbao Dao) im Grenzfluß Ussuri (Wusuli Jiang) an China ab, um die im März 1969 noch ein kleiner Grenzkrieg mit Hunderten Opfern entbrannt war. In Zentralasien spielt Rußland im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) den unbezahlten Hilfspolizisten, um Chinas Wirtschaftsinteressen in „seiner“ Seidenstraßen-Region zu schützen, wo alle neuen, von China finanzierten und gebauten Öl- und Gaspipelines aus Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan nur noch ostwärts in Richtung China pumpen. Offiziell erfolgte die Niederschlagung der Krawalle in Kasachstan im Januar 2022 allerdings durch das postsowjetische Militärbündnis ODKB, in dem neben Rußland und Kasachstan auch Armenien, Kirgisistan, Tadschikistan und Weißrußland vereint sind.

Als Rosneft vor Vietnams Küste nach Öl zu bohren begann, mußte der russische Konzern seine Tätigkeit auf Geheiß Pekings einstellen, da China fast alle Gewässer im Südchinesischen Meer einseitig als die seinigen beansprucht. Chinesische Wirtschaftsspionage in russischen Rüstungsbetrieben und der Nachbau russischer Kampfflieger werden zähneknirschend toleriert.

Der Kreml mag zwar die sonnige Urlauber- und Weininsel Krim mit dem Schwarzmeerflottenstützpunkt Sewastopol und den zertrümmerten Donbass zum Preis seiner internationalen Isolierung gewinnen, doch scheint Putin sich der langfristigen Konsequenzen seiner strategischen Abhängigkeit von China nicht im klaren zu sein. Putin hatte im Namen der nationalen Souveränität westliche Konzerne wie Shell oder BP, die den alten sowjetischen Öl- und Gasfeldern neues Leben einhauchten, vertrieben. Nun liefert er den heimischen Rohstoffreichtum chinesischen Staatskonzernen aus. Einmal mehr eine langfristig wirksame Fehlentscheidung eines vorgeblichen russischen Patrioten.

Chinesisch-russische Partnerschaft (IW-Kurzbericht 45/22):

www.iwkoeln.de

Daten der Internationalen Energieagentur IEA: www.iea.org

Foto: Chinesische Lkws fahren über die neue  Amur-Brücke nach Rußland: Die politische Willfährigkeit wird zunehmen