© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Auf dem Schlachtfeld des Weltbürgerkriegs
Nietzsches Werk: Zwei italienische Antifaschisten entschließen sich, einen gefährlichen Denker zu rehabilitieren
Wolfgang Müller

Zu seinem 60. Geburtstag, am 29. Juli 1943, bekam Benito Mussolini als Staatsgeschenk des Großdeutschen Reiches die 23bändige „Musarion-Ausgabe“ der Werke Friedrich Nietzsches überreicht. Es handelt sich um eine von fünfzehn in einem heiligen Ort europäischer Buchkunst, der Werkstatt von Frieda Thiersch in München, hergestellten Ganzleder-Kostbarkeiten der Vorzugsausgabe, deren erster Band die handschriftliche Widmung trägt: „Adolf Hitler seinem lieben Benito Mussolini“. 

Die Nr. 15 dieser bibliophilen Rarität wird aktuell von einem schwäbischen Antiquariat zum kurios exakten Preis von 256.985,00 Euro angeboten. Man kann sich ausmalen, was für das Mussolini zugedachte Stück dieser Prachtedition heute verlangt würde. Doch das ist seit dem August 1943 spurlos verschwunden. Er war schon schwer genug, es dem Geburtstagskind zu überbringen. Denn der „Duce“ war kurz vor seinem Ehrentag vom „Faschistischen Großrat“ gestürzt und auf eine Insel im Tyrrhenischen Meer verbracht worden. Die Nietzsche-Ausgabe ließ der Gefangene dort zurück, als die Verschwörer ihn in die Abruzzen verlegten. 

Für die „politische Kompromittierung Nietzsches gäbe es kaum einen schlagenderen Beweis“ als diese Anekdote, schreibt Philipp Felsch in seinem Buch „Wie Nietzsche aus der Kälte kam“. Der promovierte Kulturhistoriker von der Berliner Humboldt-Universität schildert sie im Rahmen seiner Geschichte der legendären, von den zwei italienischen Antifaschisten Giorgio Colli und Mazzino Montinari veranstalteten „Kritischen Gesamtausgabe“ der Werke Nietzsches und ergänzt sie noch um eine weitere. Diese andere Anekdote beleuchtet die grotesk-komischen Züge des Vorurteils vom „Wegbereiter des Faschismus“ und „Vordenker Hitlers“, das in der DDR bis kurz vor ihrem Untergang als Dogma galt. 1985 begann es aufzuweichen, als Montinari in der Edition Leipzig eine Faksimile-Ausgabe von Nietzsches Reinschrift des „Ecce homo“ publizieren durfte. Diese fiel Wolfgang Harich, einst der Jungstar unter den marxistisch-leninistischen Ideologen, der 1956 „seine Karriere gegen die Wand“ fuhr, als er den Sowjet-Botschafter in Ost-Berlin für die Schaffung eines entmilitarisierten Gesamtdeutschlands begeistern wollte, im Schaufenster einer Buchhandlung am Bahnhof Friedrichstraße auf.

Wolfgang Harich erstattete Anzeige bei der Volkspolizei

Harich, der sich auch nach langer Bautzen-Haft weiterhin als Gralshüter der reinen Lehre betrachtete, dürfte nach Felschs Einschätzung in den achtziger Jahren der letzte Deutsche gewesen sein, der es dem Autor des „Zarathustra“ zutraute, durch die fortgesetzte Wirkung seiner Schriften den „Untergang des Sozialismus“ herbeizuführen. Den „Ecce homo“ entdecken und in die Buchhandlung stürmen, um dessen Entfernung aus der Auslage zu fordern, war darum für Harich eins. Es kam zum Handgemenge, Harich unterlag, raste aber zur nächsten Wache der Volkspolizei und erstattete Anzeige.

Die Beamten staunten, da es sich beim inkriminierten Buch nicht um verbotene „Westliteratur“ handelte. Exakt diesen Umstand nahm der ewige Querulant aber als eigentlichen Skandal wahr: Nietzsche, die „reaktionärste und menschenfeindlichste Erscheinung in der gesamten Entwicklung der Weltkultur“, wie er prompt in einer Eingabe an den Ministerpräsidenten Willi Stoph forderte, müsse in der DDR weiter in Acht und Bann bleiben. Zu diesem Zeitpunkt war selbst Kurt Hager, der SED-Chefideologe, schon entschlossen, den Meisterdenker des „Klassenfeindes“ für das „nationale Erbe“ zu vereinnahmen.

Kapitel der Ideengeschichte des Kalten Krieges aufgeschlagen

Bereits mit diesen beiden Schmankerln über Hitlers Präsent und die Nietzsche-Phobie des Öko-Leninisten Harich löst Felsch ein, was er dem Leser verspricht: anhand der Geschichte der Nietzsche-Rezeption das gesamte Spektrum der Ideen des 20. Jahrhunderts zu entfalten und sein Werk als „Schlachtfeld, auf dem der Weltbürgerkrieg der Interpreten tobt“, abzustecken. Und zugleich eindrucksvoll zu demonstrieren, wie eine so esoterisch anmutende „Ameisenarbeit“ wie die Editionsphilologie sich als „Angelegenheit von existentieller und politischer Relevanz“ entpuppen kann. Denn im Spiegel der sich, von Pausen unterbrochen, über vier Jahrzehnte erstreckenden Korrespondenz zwischen Colli und seinem einstigen Schüler Montinari lasse sich nicht nur ein „Großteil der Nachkriegsgeschichte Italiens rekonstruieren“, zitiert Felsch eine Bemerkung des  Gründers der linksradikalen Organisation Lotta Continua, Adriano Sofri. Mit ihr und dem Hauptgegenstand, um den sie sich dreht, dem Projekt der ersten wissenschaftlich soliden Werkedition, schlage man auch zentrale Kapitel der Ideengeschichte des Kalten Krieges auf.

Unter den Bedingungen der Ost-West-Konfrontation war es Ende der fünfziger Jahre nur einem kommunistischen Kulturfunktionär aus Rom, dem Historiker und Übersetzer Montinari eben, möglich, Zutritt zu Nietzsches Nachlaß im Weimarer Goethe-Schiller-Archiv zu erhalten. Als er sich ab 1965 dort einquartierte, hatte er sich, erschüttert durch die Niederschlagung des Ungarn-Aufstands (1956), vom orthodoxen Marxismus schon verabschiedet. Somit ohne weltanschauliche Interessen, folgte er allein dem „Dämon der Philologie“ und dem Ethos der Wissenschaft, wissen zu wollen wie es gewesen ist, was Nietzsche zu Papier gebracht hat, was davon von der für ihre Fälschungen berüchtigten Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche unterdrückt worden war. 

Um sich ein Maximum an Herkulesarbeit aufzubürden, wählte Montinari die genetische Methode, die von der ersten Notiz bis zur gedruckten Seite alle Stadien der Textproduktion zu erfassen versucht. Bei Myriaden überlieferter Nachlaß-Exzerpte ein ehrgeiziges, zeitraubendes Unterfangen. Es trägt jedoch reiche Früchte, da Montinari in den Notizen und in den Marginalien in Nietzsches Handbücherei, 50 Jahre vor dem Einsatz von Plagiatssoftware, nachweist, in welchem Umfang der Philosoph „abkupfert“. Mit der Aufdeckung von „Nietzsches Quellen“, vergessener kulturkritischer und, mehr noch, medizinisch-naturwissenschaftlicher Literatur seiner Zeit, büßt der Autor den selbst geschaffenen Nimbus des originellen, intuitiven Genies ein, dem alle Ideen aus der Fülle seiner „dionysischen Inspiration“ zuströmen. Als ordinärer Plagiator steht er trotzdem nicht da. Ungeachtet aller akribisch belegten „Denkanstöße“ bleibe er, wie Colli beharrt, das „formende, auswertende, formende Prinzip“, ein begnadeter „Montagekünstler“. 

Französische Intellektuelle wollten Nietzsches Werk dekonstruieren

Obwohl er ihn letztlich verteidigt, klagt Colli doch über Montinaris „philologischen Irrsinn“, weil er für ihn das ursprüngliche Motiv der „Aktion Nietzsche“ konterkarierte. Colli wollte eine zuverlässige Werkedition, um Nietzsches Gegen-Wirkung auf die „moderne Welt“ zu fördern. Auf sie reagierte der gegen Technisierung, Amerikanisierung und Monotonisierung des Planeten, gegen die Entfremdung und Entmenschlichung des Individuums eingestellte Colli mit gleicher Verachtung wie der Verfasser der „Unzeitgemäßen Betrachtungen“. Hingegen mußte Montinaris an eine Handvoll Nietzsche-Exegeten adressiertes Mosaik der Textvarianten mit seinen Anmerkungsbatterien diesen pädagogischen Zweck des Unternehmens gefährden: die Massen zu überreden, mit ihrem Alltagsverstand zu brechen, um den Primat der Kultur über Politik und Wirtschaft herzustellen.

Um so mehr freuten sich – und damit liefert Felsch ein Glanzstück seiner Darstellung – die französischen Nietzscheaner, die im Zeichen der Kulturrevolution vom Mai 1968 Nietzsche als postmodernen Anarchisten frisierten. Aufgrund von Montinaris filigranen Analysen zur Werkgenese glaubten sich die Deleuze, Barthes, Foucault & Co. ermächtigt, den Begriff des Werkes und konsequent dann auch des Autors negieren zu dürfen. Wenn alles zum „Werk“ gehört, was Nietzsche jeweils zum „Zarathustra“ oder zur „Geburt der Tragödie“ notierte, wenn vieles aus versteckten Zitaten besteht, sei es reine Willkür, feste Werk-Grenzen zu fixieren und höchste Zeit, den „Tod des Autors“ (Roland Barthes) auszurufen – und ebenso die Relativität von „Wahrheit“, „Werten“, „Normen“ – Begriffe, die fortan nur in Anführungszeichen zu setzen seien.

Hier führt Felsch den Leser an den Ursprung des Kulturkrieges, den die von der französischen Krankheit der „Dekonstruktion“ infizierten Diversen und Woken heute gegen den gesunden Menschenverstand ausfechten. Vom Tod des Autors zum Wunsch nach Auslöschung jeglicher Identität fortschreitend, formulierte der Philosoph Gilles Deleuze das Recht auf „Nomadismus und Vandalismus“: „Wenn wir ein wenig flüssiger werden, wenn wir uns der Zuweisung des Ich entziehen, wenn es keinen Menschen mehr gibt, an dem Gott seine Strenge ausüben oder durch den er sich ersetzen lassen kann, dann verliert die Polizei den Kopf“. Kürzer gesagt mit Gustaf Gründgens: „Rebellion, Rebellion, in den Katakomben/ Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da …“ 

Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung. C. H. Beck, München 2022, gebunden, 286 Seiten, Abbildungen, 26 Euro

Foto: Karikatur des Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900): Montagekünstler