© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Nationale Identitäten verteidigen
Publizistik: Zwanzig Jahre nach ihrer Einstellung ist wieder eine Druckausgabe der Zeitschrift „wir selbst“ erschienen
Martin Louis Schmidt

Die nach zwei Jahrzehnten einer rein digitalen Existenz fortgesetzte Druckausgabe der wir selbst positioniert sich in der gleichen Grundrichtung wie die zwischen 1979 und 2002 erschienenen Blätter, wenngleich ideell begrenzter, als sozial-patriotisches, anti-liberales, anti-amerikanisches Meinungsorgan. Eine sich als Einstieg aufdrängende Bezugnahme auf die gerade in jüngster Zeit erheblich gestiegene Bedeutung der namensgebenden irischen Partei Sinn Féin (irisch: „wir selbst“) unterbleibt leider. Statt dessen schreibt der alte wie neue Herausgeber – der Verleger Siegfried Bublies – mit unverkennbar anti-westlicher Stoßrichtung über „Rußlands Krieg in der Ukraine, das Ende der Illusionen und die Renaissance der Nationalstaaten“. Seine Reflexionen schließen einschneidende Erkenntnisprozesse ein: Putin habe sich mit Rußland „nicht nur zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine hinreißen lassen, sondern in einer dilettantischen und wohl gerade deshalb äußerst brutalen Kriegsführung mit zahlreichen Kriegsverbrechen der Welt gezeigt, wie man die eigenen Großmachtambitionen und dazu auch noch die Glaubwürdigkeit als ernstzunehmende, auf friedliche internationale Kooperation ausgerichtete östliche Führungsmacht in kürzester Zeit in Grund und Boden stampfen kann“.

Beitrag zu Stefan George und dem Widerstand des 20. Juli 1944 

Generalmajor a.D. Gerd Schultze-Rhonhof sekundiert mit einem Beitrag „Ist Putin wirklich ein Kriegsverbrecher?“ Einen Schwerpunkt seiner Schilderung der Vorgeschichte des Ukraine-Konflikts legt er auf die Nato-Osterweiterung nach 1990 und kommt dabei zu dem Schluß, daß Putin keineswegs der Alleinschuldige an dem Krieg sei. Putin sei „nur die Wahl zwischen russischer Selbstbehauptung oder Unterwerfung unter den Hegemonialanspruch der Amerikaner“ geblieben.

In weiteren Beiträgen lassen sich der Publizist Manfred Kleine-Hartlage über „Deutschenfeindlichkeit und Deutschfeindlichkeit – das westliche antideutsche Narrativ“ und der Rechtsanwalt Klaus Kunze über den Terminus „deutsches Volk“ aus. Hinzu kommen radikale Plädoyers wie das des erst 2020 aus der Partei Die Linke ausgetretenen Jens Woitas „Der falsche Traum vom wahren Konservativen“ oder Florian Sanders („Für ein Europa der souveränen Nationen. Eine konservative europäische Vision“). Uneingeschränkt lesenswert ist der Artikel „Dichtung und Staat. 

Eine Betrachtung zu der Bedeutung Stefan Georges für den 20. Juli 1944“ von Timo Kölling. Darin weist der Autor zu Recht darauf hin, daß der Dichter als geistiger Ahnherr des Widerstandskreises um Claus Schenk Graf von Stauffenberg „weithin unbeachtet und verschwiegen“ bleibe. „Die Berufung unserer Politiker auf den 20. Juli 1944 jedenfalls bleibt fadenscheinig und stellt eine Vereinnahmung dar, die unehrlich bleibt, solange nicht auch die geistigen Wurzeln gewürdigt werden, die den Widerstand der Brüder Stauffenberg erst ermöglicht haben“, schreibt Kölling. Auch Christian Böttgers Artikel zur Ethnogenese des russischen Volkes ist durchaus beachtenswert.Blätterte man in der seinerzeit mit dem Etikett „nationalrevolutionär“ versehenen Zeitschrift wir selbst, so treten eklatante Unterschiede zur Gegenwart ins Bewußtsein, allen voran die seinerzeitige Diskussionsfreudigkeit verschiedenster politischer Schattierungen von linksaußen bis ganz rechts. Dort stand der Wille im Mittelpunkt, auf dem Fundament des Bekenntnisses zu Nation und gemeinschaftlicher Identität starre Gegensätze aufzuheben und Brücken zu bauen – zwischen nicht doktrinär internationalistisch gesinnten sozialistischen Linken einerseits und antiegalitären, am Primat der Kultur gegenüber dem reinen Machtstaat orientierten demokratischen Rechten andererseits.

Das war erfrischend und mitunter originell hinsichtlich der Autoren- und Themenwahl. So machte die im Dezember 1979 in Koblenz herausgegebene erste Ausgabe mit einem Titelfoto Rudi Dutschkes auf und ergänzte das im Geleitwort um ein pathetisches Bekenntnis zum „Befreiungs-Nationalismus gegen Sowjet- und US-Imperialismus“ sowie einem zu dieser Zeit des Umbruchs passenden revolutionären Duktus: „Gemeinschaft, gegenseitige Achtung, Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft müssen Werte werden, die das Profitdenken des brutalen kapitalistischen Systems ablösen.“

In nachfolgenden Heften findet man neben wiederholten dubiosen Bezügen zu Muammar al-Gaddafis Libyen einige Leitartikel von Joseph Beuys und Rudolf Bahro, Interviews mit Wolfgang Venohr, Richard Scheringer, dem walisischen Plaid-Cymru-Vorsitzenden Gwynfor Evans, mit den irischen Sinn-Féin-Frontmännern Martin McGuinness und Gerry Adams oder mit Franz Schönhuber, dem einstigen Bundesvorsitzenden der Republikaner. Darüber hinaus viele Berichte über ethnische Freiheitsbestrebungen von Irland, Flandern, Südtirol oder Korsika bis Kurdistan, Namibia, Afghanistan, Costa Rica und Grönland, aber auch frühe ökologische Texte etwa über „Die Alpen – Opfer der Wegwerfgesellschaft“ sowie historische Exkurse zu „Deutschland zuliebe. Der Widerstand der Weißen Rose“.

Nicht zuletzt gehörten Ausführungen mit einer national-neutralistischen gesamtdeutschen Zielrichtung zum Profil der Zeitschrift, beispielsweise Texte über „Robert Havemann – ein sozialistischer Patriot“ sowie Beiträgen von seinerzeit vielbeachteten Autoren wie dem Rechtsprofessor Wolfgang Seiffert, dem Politikwissenschaftler Bernard Willms,

General a.D. Günter Kießling, Siegmar Faust und dem CDU-Bundestagsabgeordneten Bernhard Friedmann („Einheit statt Raketen – Thesen zur Wiedervereinigung Deutschlands als Sicherheitskonzept“).

Es sollen mindestens zwei Ausgaben pro Jahr erscheinen 

Bis auf weiteres haben die Redakteure Siegfried Bublies und Hanno Borchert mindestens zwei Ausgaben pro Jahr geplant. Hinsichtlich der optischen Gestaltung ist dabei noch eine Menge Luft nach oben. Inhaltlich erscheint vieles zu eindimensional, und große Fragestellungen bleiben unberücksichtigt. Aber vielleicht werden verlockende Themen wie eine tiefergehende Analyse des rasanten Wandels der Grünen von einem hochideologischen Pazifismus hin zu einer aktiven Militär- und Aufrüstungspolitik und einem regelrechten Bellizismus ja schon in der nächsten Ausgabe in Angriff genommen. Desgleichen eine Bestandsaufnahme ökologischer Vorstellungswelten von den facettenreichen Anfängen der Grünen (die die alte wir selbst mit großer Sympathie begleitet hatte) bis zur real existierenden intoleranten Gegenwart unter Wirtschaftminister Robert Habeck, Außenministerin Annalena Baerbock & Co.

Auch eine genaue Betrachtung der Ideenwelt des Historikers und Rechtsintellektuellen Henning Eichberg, dem Spiritus Rector der Zeitschrift, und ihrer Folgen für die politische Entwicklung Dänemarks verspräche spannend zu sein. Nicht zuletzt würde die zwingende Auseinandersetzung mit der expansiven Politik der Volksrepublik China, eine pointierte Kritik der linken sogenannten „Identitätspolitik“ sowie der drakonischen „Cancel Culture“ vor allem im angelsächsischen Raum gerade der wir selbst gut zu Gesicht stehen. Denn eines ist klar: Ähnlich wie in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren ist gegenwärtig besonders viel in Bewegung geraten, und ein Rückzug in die politische Nische wird den kommenden gewaltigen Herausforderungen nicht gerecht.






Martin Louis Schmidt ist seit 2016 Abgeordneter der AfD im Landtag von Rheinland-Pfalz und war früher als Autor für „wir selbst“ tätig.

Kontakt: „wir selbst“, Bergstraße 11, 56290 Beltheim-Schnellbach. Das Einzelheft kostet 15 Euro.

 www.wir-selbst.com 

Foto: Dokumentation eines russischen Angriffs auf Häuser im Dorf Komyschuwacha in der Region Saporischschja im Südosten der Ukraine: Titelthema des „wir selbst“-Heftes