© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Mit Diagrammen gegen Meinungen
Goldene Zeiten für Wissenschaftsjournalisten
Dirk Glaser

Als Frank Schirrmacher, damals Feuilletonchef der FAZ, im Sommer 2000 seine Seiten freiräumte, um die letzte Sequenz des gerade entschlüsselten menschlichen Genoms spaltenlang abbilden zu können, bejubelte auch die Konkurrenz diese Entscheidung als Sternstunde des Wissenschaftsjournalismus. 

Seitdem ist die öffentliche Aufmerksamkeit für das, was Wissenschaftler tun, stetig gestiegen. Worauf fast alle unter den sich noch am Markt behauptenden, einstmals „großen“ deutschen Tageszeitungen, Magazinen und Zeitschriften mit der Ausweitung ihrer Berichterstattung über Wissenschaft und Forschung reagierten. 2018 erschienen 18 Prozent aller Presseartikel im Wissenschafts-, aber nur 14 Prozent im Wirtschaftsteil. Das klassische Feuilleton mit Literatur, Theater, Film behauptet mit 23 Prozent zwar weiterhin einen Spitzenrang. Doch nur, nach Schirrmachers Vorbild, weil mehr und mehr in diesen Anteil die im Feuilleton ausgetragenen endlosen Debatten über Zukunftstechnologien, die Arbeitswelt 4.0, Künstliche Intelligenz, Transhumanismus, „menschengemachten Klimawandel“ oder eine „nachhaltige Moderne“ inbegriffen sind.    

Allgemeine Ausrichtung an wissenschaftsbasierter Politik

Letzte Zweifel über die enorme gesellschaftspolitische Relevanz dessen, was vermeintlich im „Elfenbeinturm“ geschieht, hat die Corona-Pandemie beseitigt. Virologen wie Christian Drosten stiegen zu Medienstars auf, sorgten in bislang einzigartiger Weise für den Transfer von Forschungsleistungen in die akuten Informationsbedarf signalisierende Öffentlichkeit. „Wissenschaftsbasierte Politik“, bei weitem nicht allein im Kontext von Medizin und Gesundheit, ist heute ein Qualitätsmaßstab, an dem sich jeder Dorfschulze ausrichtet, der glaubt, sich mit einer Windparkplanung an der Weltrettung nach den Vorgaben von Potsdamer „Klimafolgenforschern“ beteiligen zu müssen.

Für André Haller, der an der Fachhochschule Kufstein Tirol Marketing & Kommunikationsmanagement lehrt, zeichnet sich damit ein seit zwanzig Jahren stabiler Trend ab. „Wissenschaftskommunikation und -journalismus werden künftig weiter an Bedeutung gewinnen.“ Bewirkt insbesondere durch Themen wie Biotechnologie, Medizin und Umwelt (Politische Studien, 502/2022). Primär das Interesse an medizinischen Themen dürfte in den alternden Gesellschaften des globalen Nordens künftig haussieren. Die datengestützte journalistische Berichterstattung werde zur Standarddarstellungsform des Wissenschaftsjournalismus. Darüber hinaus dominiere sie heute selbst so meinungslastige Politiksektoren wie etwa die Wahlberichterstattung. Seriös sei die ohne penible Quantifizierung, ohne Diagramme und Umfrageanalysen gar nicht mehr zu leisten. Doch die nunmehr „zentrale Rolle der Forschung für die Funktionsfähigkeit der Demokratie“ habe mit der politischen Aufwertung der Wissenschaft leider auch zu „politisierter Wissenschaft“ geführt.

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