© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/22 / 17. Juni 2022

Den Wunsch zum Bewahren erhalten
Der irreparabel erscheinenden Selbstabschaffung des Abendlandes mit eisern behaupteten Traditionen begegnen
Peter Backfisch

Der von dem Althistoriker David Engels und dem Theologen und Politikwissenschaftler Felix Dirsch herausgegebene Band versammelt 13 Beiträge namhafter Kenner der europäischen Geschichte und der aktuellen Entwicklungen eines beispiellosen Niedergangs, der von den meisten Bürgern nicht erkannt und dem eher mit Unverständnis und Desinteresse, ja sogar mit Schadenfreude begegnet wird. Die Autoren wollen aufklären und aufzeigen, daß die abendländische Seele sich auf den Weg der Selbstabschaffung begeben hat und es scheint, daß dieser Prozeß irreparabel geworden ist. Dennoch werden dem Leser mögliche Auswege aufgezeigt. Ob diese nachhaltige Lösungen nach sich ziehen, bleibt offen und ist davon abhängig, ob die Völker Europas bereit sind, sich zukünftig überhaupt noch auf die Werte des Abendlandes mit seinen historischen, ethischen, religiösen und kulturellen Traditionen zu beziehen. 

Bereits in der Einleitung legen Dirsch und Engels dar, daß „als einzige Alternative zu dieser Auflösung nur der Wunsch zum Bewahren, zum Konservieren des uns Übertragenen, der Tradition“ zu sehen ist. Ausgangspunkt muß dabei sein, daß wir uns unseres kulturell-geistigen Erbes wieder bewußt werden. Die Verinnerlichung dieser Alternative ist essentiell, weil die „Zukunft Europas von der abendländischen Herkunft nicht zu trennen ist“.

Genau dies zeigt Engels im ersten Beitrag „Die Völker der Antike und das andere“ auf und versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, inwieweit die Entwicklung des abendländischen Selbstbilds und dessen Wandlung bereits in der Geschichte der Antike vorgebildet wurden. Die mögliche Nutzanwendung in der heutigen Situation sieht Engels in der Identität, die die „kulturellen und politischen Zugehörigkeiten eines Menschen definiert“. Wann eine identitätspolitische Reform auf den Weg gebracht werden kann, läßt er offen.

Ram A. Mall überschreibt seinen Beitrag mit „Eine ‘nicht-europäische’, jedoch nicht ‘anti-europäische’ und post-koloniale Entdeckung Europas“. Die vorgebrachten Argumente stehen im Widerspruch zu allen anderen Autoren, weil nach Rams Meinung „historische Schuld des europäischen Kolonialismus“ und negative „Europäisierung der Menschheit“ (Heidegger) in einem Gegensatz zur erforderlichen Interkulturalität stehen. Argumente, die sich wenig vom herrschenden post-kolonialen, globalistischen Mainstream unterscheiden und dessen Duktus er übernimmt. Es ist selbst dann wenig glaubhaft, wenn er mehrfach betont, ein „positives Europabild“ zu haben.

Im Aufsatz „Der lateinische Okzident und die islamische Welt“ beschreibt Egon Flaig streitbare Gegensätze zwischen dem Abendland und der islamischen Welt. Ausführich wird dabei die Art der Kriegsführung der islamischen Eroberungskriege vom 7. bis zum 9. Jahrhundert mit den Kreuzzügen der Christen verglichen. Flaig sieht in den Zuständen der Feindschaft gegen „Ungläubige“ und in der Praxis von Sklaverei mehr Despotie und Unmenschlichkeit im Islam als im Christentum.

Erik Lehnert würdigt das Werk Max Webers anläßlich dessen 100. Geburtstags. Lehnert arbeitet dabei den von Weber beschriebenen Zusammenhang von abendländischem Modernisierungsschub auf die Lebensbedingungen der modernen Menschen im Kapitalismus heraus. Er spricht dabei vom „okzidentalen Sonderweg“, dessen Triebfeder der Rationalismus ist und eine Abgrenzung zum Rest der Welt ist. Er hat dazu geführt, daß diese Produktionsweise sich im Abendland und schließlich weltweit durchgesetzt hat. Die ökonomischen Wirkungen von „Gehäusen als stählernes Korsett, Staat als politische Anstalt und Bürokratie als Behinderung von Freiheit“ auf den handelnden Menschen erfahren durch den Berliner Philosophen eine ausführliche Behandlung. 

Felix Dirsch behandelt in seinem Aufsatz „Alles Spenglerianer?“ das „Abendland in der Belletristik des 20. Jahrhunderts“. Gleich zu Anfang versucht Dirsch dem Begriff Abendland mit seiner vielschichtigen historischen und regionalen Problematik die Unschärfe zu nehmen und stellt fest, daß der Abendland-Begriff nicht vom Verlauf der Historie Europas nach dem Ende des Römischen Reiches zu trennen ist. Eng verknüpft ist er mit dem tausendjährigen Abwehrkampf mit den islamischen Eroberungen. Dieser Kampf gehe aktuell weiter, die folgenden „kulturpolitischen Stichworte: demographischer Schwund, Massenmigration und Bevölkerungsaustausch, Islamisierung, Bildungskrise usw.“ sind zu nennen. Der Niederschlag in der erzählenden Literatur ist bei Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, Robert Musil, Hermann Broch, Joseph Roth (Traditionslinien des Habsburger Reichs) sowie bei Theodor Haecker zu suchen. Für die unmittelbare Gegenwart werden Michel Houellebecq und Jean Raspail genannt. Bei diesen Autoren sind auffallend viele Affinitäten zur Perspektive Oswald Spenglers zu finden.

Auf die anderen Beiträge dieser Gedankensammlung kann nur selektiv eingegangen werden. Doch auch die Texte von Jobst Landgrebe über die „Abendländische Kultur im Zeitalter der Technosphäre“, Christian Macheks „Ideologie oder Mythos Abendland?“, Caroline Sommerfelds Text über „Volkstod, Volksermordung und das mysterium iniquitatis“, Martin Lichtmesz zu „Pegida und das Bekenntnis zum Abendland“ oder Daniel Zöllner zur „Einheit des Abendlandes“ und dem „Verhältnis des Protestantismus zur Idee des christlichen Abendlandes“ sind lesenswert. Für alle, die sich mit Liberalismuskritik befassen und in Deglobalisierung ein Gegenmodell zum Weltstaat sehen, beinhaltet der Sammelband einen unerschöpflichen Fundus zur erforderlichen Debatte.

Felix Dirsch, David Engels (Hrsg.): Gebrochene Identität? Christentum, Abendland und Europa im Wandel. Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2022, broschiert, 452 Seiten, 19,90 Euro