© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Nach der Frankreich-Wahl
Zeitenwende in Paris
Friedrich-Thorsten Müller

In Paris stehen seit den Parlamentswahlen die Zeichen auf Sturm. Noch nie war ein französischer Präsident so kurz nach seiner Wiederwahl ohne Parlamentsmehrheit. Mit seinem sonst sehr autoritären Führungsstil wird Emmanuel Macron sich regelrecht neu erfinden müssen, wenn er seine zweite Amtszeit zum Erfolg bringen möchte. Ob ihm bis zu seinem verfassungsmäßig vorgeschriebenen Ausscheiden nach der zweiten Präsidentschaft nennenswerte Reformen gelingen werden, ist somit fraglich. 

Die eigentliche Zeitenwende ist aber, daß es Marine Le Pen gelang, in 89 Wahlkreisen eine Mehrheit für ihre Kandidaten zu gewinnen und stärkste Oppositionspartei zu werden. Die „Republikanische Front“ ist tot und Le Pens Projekt der „Entteufelung“ des Rassemblement National (RN) ist wohl endgültig der Durchbruch gelungen. 

Bisher hatte im unfairen Mehrheitswahlrecht ein verläßlicher Schulterschluß aller übrigen Parteien den RN weitgehend aus dem Parlament ferngehalten. Wenn sich nun noch das unter der Abkürzung „Nupes“ (Neue ökologische und soziale Volksunion) organisierte linke bis linksextreme Parteienspektrum in fünf Jahren für die Präsidentenwahl auf eine Zusammenarbeit verständigen kann; wenn Inflation und Kaufkraftverlust außerdem das Land weiter radikalisieren, dann ist es gut möglich, daß beim nächsten Mal zwei massiv EU-feindliche Kandidaten die Stichwahl um das Präsidentenamt unter sich ausmachen.