© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

„Ein Krieg, wie er uns droht“
Sicherheit: Die Gefahr eines militärischen Konflikts in Europa ist zurück – in wenigen Jahren schon könnte es soweit sein, warnt der Verteidigungsexperte Julian Lindley-French in seinem neuen Buch „Future War“. Deutschland rät er den Aufstieg zu einer Großmacht
Moritz Schwarz

Herr Professor Lindley-French, könnte man sarkastisch sagen, der Angriff auf die Ukraine ist quasi der „Krieg zum Buch“ Ihres neuen Titels „Future War“? 

Julian Lindley-French: Ja, ebenso wie unser Buch, das ich mit den US-Generälen Ben Hodges und John Allen verfaßt habe, ist dieser Krieg ein Weckruf! 

„Future War“ erschien am 21. Februar auf deutsch und sagt einen Angriff Rußlands voraus – am 24. Februar fand dieser tatsächlich statt! 

Lindley-French: Ich habe Putins Überfall schon im letzten Jahr vorhergesagt, sogar relativ zeitgenau. Allerdings in anderen Beiträgen, nicht im Buch. Denn dort geht es nicht um einen Angriff nur auf die Ukraine, sondern auf Europa – um einen Krieg, wie er uns in naher Zukunft, in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren drohen könnte.

Zunächst schildern Sie in einem romanartigen Vorspiel die militärische Niederlage der Nato und den Fall eines von einer Pandemie geschwächten Europas. Dann analysieren Sie im Haupt- und Sachbuchteil die Bedrohungslage Europas und seine Verteidigung. Auf den letzten Seiten wiederholt sich der fiktionale Angriff in Romanform – diesmal aber siegt die Nato.

Lindley-French: Wir leben ja längst nicht mehr in der relativen Sicherheit der Zeit direkt nach dem Kalten Krieg. Seitdem ist eine völlig neue Bedrohungslage entstanden, vor der wir nicht länger die Augen verschließen dürfen! Der Ukraine-Krieg spricht eine klare Sprache: Europa muß aufwachen! Wir müssen uns der Tatsache stellen, daß ein großer Krieg auch in Europa wieder möglich ist.

Warum, was hat sich verändert? 

Lindley-French: Weil neue Krisen, wie etwa die Corona-Pandemie, neue Mächte, wie China, das in unserem Buch Rußland unterstützt, sowie neue Technologien, Stichwort Cyber- und Hyperkrieg, Europa wieder verwundbar gemacht haben. 

Wie sieht er aus, der „Future War“, also der „künftige Krieg“, vor dem Sie warnen?

Lindley-French: Es ist ein schneller, vernetzter Krieg. Digitale Information und Führung in Echtzeit wird zum Schwerpunkt werden und die Bedeutung klassischer Faktoren wie Waffen, Soldaten oder die Topographie des Gefechtsfeldes natürlich nicht aufheben, aber relativieren. 

In den letzten dreißig Jahren hieß es, Kriege mit Kanonen, Panzern etc. seien Geschichte, der Krieg der Zukunft sei „asymmetrisch“: er werde von leichten Einheiten und spezialisierten Kommandos gegen technisch unterlegene Aufständische geführt. 

Lindley-French: Asymmetrische Kriege, wie in Afghanistan, wird es weitergeben, die Dschihadisten sind ja nicht verschwunden. Doch dreißig Jahre nach dem Kalten Krieg ist nun die Bedrohung durch Staaten mit konventioneller Armee zurück. 

Sie sagten eben, wir haben noch zehn, fünfzehn Jahre Zeit. 

Lindley-French: Nein, denn militärische Fähigkeiten aufzubauen dauert Jahre! Wer damit erst beginnt, wenn ein Krieg in Sicht ist, hat bereits verloren. Deshalb ist absolut entscheidend, was unsere Politiker heute veranlassen! 

Was befürchten Sie? 

Lindley-French: Ich beschäftige mich mit der Thematik seit dreißig Jahren, habe für die EU und die Nato gearbeitet – wie viele Ankündigungen wie diese habe ich erlebt: Wir Europäer werden dieses oder jenes entwickeln! Kaum etwas davon ist je umgesetzt worden. Stattdessen werden immer neue Akronyme geschaffen, etwa CSDP – „Common Security and Defence Policy“ (Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik) –, die den Eindruck erwecken, es tue sich etwas. Tatsächlich aber sind unsere Streitkräfte immer weiter geschrumpft.

In welchem Zustand ist die europäische Verteidigung?

Lindley-French: Soll ich ehrlich sein?

Aber sicher.

Lindley-French: In Wahrheit haben wir es mit einem politischen Skandal zu tun! 

Inwiefern?

Lindley-French: Es ist völlig unverantwortlich, wie fahrlässig die meisten europäischen Regierungen mit dem Thema Verteidigung umgehen, wie wenig sie bereit sind, dafür auszugeben, wie sehr sie ihre Armeen vernachlässigen und welches Risiko sie damit eingehen. Ich glaube, es ist den Bürgern gar nicht klar, welcher Gefahr ihre Regierungen sie damit aussetzen – einfach darauf setzend, es werde schon alles gutgehen. 

Kanzler Scholz hat eine „Zeitenwende“ versprochen.

Lindley-French: Das begrüße ich sehr, hege jedoch die Befürchtung, sie könnte auch schon wieder vorbei sein, sobald der Ukraine-Krieg nicht mehr im Vordergrund steht. Denn machen wir uns nichts vor, infolge von Corona und anderer Faktoren sehen wir einer massiven ökonomischen Krise entgegen. Ausgaben für Verteidigung konkurrieren aber mit den wachsenden Sozialstaatsausgaben und jenen für unsere Gesundheitssysteme in der Ära der Pandemien. Das verantwortungsvoll in Ausgleich zu bringen, wird sich als „die“ große politische Herausforderung unserer Zeit herausstellen! Denn in den meisten Ländern kann man mit dem Thema Verteidigung keine Wahlen gewinnen, weshalb da gerne besonders gekürzt wird. Gerade deshalb aber zeigt sich hier der Staatsmann – der Verteidigung nicht nur als Kostenfaktor, sondern als Zukunftsvorsorge erkennt, und der die Fähigkeit zur Führerschaft hat: also seinen Standpunkt durchzusetzen, auch wenn er bei vielen Bürgern unpopulär ist. Denn was mich wirklich wahnsinnig macht, ist das Argument vieler Politiker, dies sei nicht möglich, da die Bürger das nicht verstünden. Ja, selbstverständlich tun sie das nicht! Weil sie als Laien natürlich keine Ahnung davon haben, wie Verteidigung funktioniert. Aber gerade deshalb muß der Politiker die Verantwortung übernehmen und das Land hier anführen. Eben das ist sein Job, und nicht einfach der Stimmung nachzugeben. 

In Deutschland kümmert der Zustand der Bundeswehr kaum jemanden wirklich, Motto: Nato und USA werden uns schon beschützen.

Lindley-French: Genau das ist das Problem! Denn es ist eben gerade andersherum: Europas Verteidigung hängt von Deutschland ab. 

Wie kommen Sie darauf? 

Lindley-French: Erstens weil Deutschland mit etwa vier Billionen Dollar BIP die führende Volkswirtschaft in Europa ist, zweitens das bevölkerungsstärkste Land und drittens, schauen Sie mal auf die Landkarte: Ihre Lage! Und leider scheinen die Deutschen vergessen zu haben, daß ihre Bundeswehr im Kalten Krieg mit 500.000 Mann die größte Armee in Westeuropa war – zum Vergleich: die USA hatten damals nur 300.000 Soldaten in Europa. Natürlich hätte man im Ernstfall weitere aus den USA nachgeholt. Doch heute steht Washington mit China einem mächtigen neuen Herausforderer gegenüber, was die US-Kräfte überdehnt. Dazu kommt, daß in der Nato außer den Amerikanern nur Großbritannien und Norwegen ihre Verteidigung angemessen finanzieren. Das stellt die Frage: Warum bitte sollen die Steuerzahler dieser Länder, die alle drei nicht in Kontinentaleuropa liegen, die Sicherheit der Deutschen und der anderen Kontinentaleuropäer finanzieren – während deren Regierungen ihre Steuerzahler diesbezüglich schonen?

Wie bewerten Sie denn den Zustand der Bundeswehr?

Lindley-French: Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber der Grad ihrer Verwahrlosung ist geradezu kriminell! Zur Klarstellung: Das ist nicht die Schuld der deutschen Soldaten. Ich hatte die Ehre, mit etlichen von ihnen zusammenzuarbeiten, und es waren großartige Vertreter des modernen Deutschlands. Nein, die Ursache ist die unglaubliche Vernachlässigung Ihrer Armee durch die politische Klasse Ihres Landes. Es fehlt an fast allem, die Technik ist oft fast schon „antik“ oder funktioniert in vielen Fällen nicht. Immer wieder gibt die deutsche Politik ihre Soldaten damit im Bündnis der Lächerlichkeit preis. Ich erinnere mich etwa an eine gemeinsame Marineübung, bei der ein deutscher MG-Schütze in Ermangelung von Munition das Abfeuern seiner Waffe damit zu simulieren hatte, daß er mit seinen Fingern trommelte. Dabei sind gemeinsame Übungen das Element, das die Nato-Truppen zusammenbringt. Wenn sich aber die Soldaten eines Landes dabei als nicht verläßlich erweisen, etwa weil sie nicht die nötige Ausrüstung haben, dann werden sie von den anderen nicht ernstgenommen, da man sich im Ernstfall nicht auf sie verlassen kann. Außerdem werden diese Nationen intern quasi „ausgeschlossen“, wenn es darauf ankommt. Das hat sich zum Beispiel in Afghanistan gezeigt, wo etliche US-Offiziere, weil sie wußten, sie können sich etwa auf uns Briten verlassen, uns stets einbezogen – während sie Deutsche und andere außen vor ließen. 

Tatsächlich gibt Deutschland schon bisher viel Geld für seine Armee aus, nominell fast so viel wie Rußland. 

Lindley-French: Richtig, Deutschland hat mit etwa 52 Milliarden Dollar den dritthöchsten Wehr­etat in der Nato und den fünfthöchsten der Welt. 

Wieso ist die Bundeswehr dann in so einem Zustand?

Lindley-French: Zum einen sind in Europa die Personalkosten natürlich viel höher als in Rußland. Zum anderen aber wird das Geld vielfach ineffektiv ausgegeben. So brauchen europäische Rüstungsprojekte mitunter zwanzig Jahre für die Entwicklung! Das führt zu Kostenexplosionen, und wenn die Systeme geliefert werden, sind sie zum Teil sogar schon wieder veraltet. 

Was fordern Sie für Deutschland? Wieder die Wehrpflicht und 500.000 Mann wie im Kalten Krieg?

Lindley-French: Nein, aber etwa 250.000 für das Heer plus einige zehntausend für Marine und Luftwaffe. Weniger Soldaten, dafür aber bessere Ausrüstung, das ist die richtige Entscheidung.

Sie sagen, Europa sollte sich selbst verteidigen können. Aber ohne die USA ist das doch unmöglich. 

Lindley-French: Warum? Zu Westeuropa gehören einige der stärksten Volkswirtschaften der Welt, darunter drei Großmächte: Großbritannien, Frankreich und Deutschland. 

Deutschland eine Großmacht? Dazu reichen unsere Kapazitäten doch gar nicht.

Lindley-French: Erstaunlich, daß Sie das sagen, denn es ist falsch. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Erde. Wer wenn nicht Sie sollte sich das leisten können? Nein, die Wahrheit ist vielmehr: Sie wollen keine sein!

Eine Großmacht braucht strategische U-Boote und Flugzeuge, Flugzeugträger, Atombomben, militärische Satelliten, zahlreiche Spezialwaffen und neue Spitzentechnologie in allen Waffengattungen.

Lindley-French: Das alles könnte Deutschland haben. Natürlich ist das teuer, aber nicht zu teuer für Deutschland – es ist nur den Deutschen zu teuer.

Wie hoch schätzen Sie die Chance eines großen künftigen Krieges in Europa überhaupt?

Lindley-French: Das hängt davon ab – wenn Europa effektiv aufrüstet, gering. Denn verstehen Sie mich nicht falsch, es geht in erster Linie nicht darum, einen solchen zu führen, sondern darum, ihn führen zu können – um ihn nicht führen zu müssen. Warum, denken Sie, hat Putin die Ukraine überfallen? Weil er glaubte, es sich leisten zu können. Weder er noch China oder sonst jemand dürfen das bezüglich Europa annehmen! 

Jedoch hat Rußland sich in der Ukraine militärisch blamiert. Seit sie die Russen kämpfen sehen, schlafen viele westliche Experten auch ohne Rüstung eindeutig besser.

Lindley-French: Die Russen haben den Angriff auf Kiew falsch geplant, weil sie sich in der Ukraine getäuscht haben. Das muß beim nächstenmal aber nicht wieder so sein – bei einem Angriff auf das Baltikum vielleicht.

Was antworten Sie Kritikern, die Ihnen vorhalten, kein neutraler Fachmann zu sein, sondern als ehemaliger Experte der Nato pro domo zu sprechen? 

Lindley-French: Daß ihr Vorwurf idiotisch ist.

Warum? Das ist doch absolut naheliegend. 

Lindley-French: Nein, die Bedrohung Europas ist keine Werbeidee der Nato, sondern eine Tatsache, die nur jene nicht erkennen, die politisch inkompetent sind und keine Ahnung von Geschichte haben. Vorsicht vor solchen Leuten!






Prof. Dr. Julian Lindley-French, der Verteidigungsexperte und Historiker beriet diverse Nato-Einrichtungen, den Generalstab der britischen Streitkräfte, hatte die Lehrstühle für Kriegskunst und -wissenschaft sowie für Strategische Verteidigung an der Akademie für nationale Verteidigung der Niederlande inne und an der Universität Leiden den für Strategische Studien. Er ist wissenschaftliches Mitglied der Hochschule für Nationale Verteidigung der USA in Washington, Gründer des militärfachlichen Netzwerks The Alphen Group und Autor zahlreicher Bücher. Jüngst erschien: „Future War. Bedrohung und Verteidigung Europas“. Geboren wurde der Brite 1958 in Sheffield. 

Foto: Soldaten der Division „Schnelle Kräfte“ der Bundeswehr: „Es ist unverantwortlich, wie fahrlässig die Politik mit dem Thema umgeht und einfach darauf setzt, es werde schon alles gutgehen. Es ist eine völlig neue Bedrohungslage entstanden. Wir müssen uns der Tatsache stellen, daß ein großer Krieg auf unserem Kontinent wieder möglich ist! Und seine Verteidigung hängt von Deutschland ab“