© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

„Aus dem demokratischen Spektrum ausgegrenzt“
Urteil: Das Bundesverfassungsgericht rügt die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihre Äußerungen zur AfD / Entscheidung umstritten
Jörg Kürschner

Ausgerechnet Angela Merkel (CDU) hat der AfD zu einem spektakulären Triumph vor dem Bundesverfassungsgericht verholfen, weil die damalige Kanzlerin mit ihrem Kommentar zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 das Gebot der Neutralität verletzte. Vergangene Woche rügte der Zweite Senat mit knapper Mehrheit, „daß die Bundesregierung oder ihre Mitglieder die Möglichkeit der Öffentlichkeitsarbeit nutzten, um Regierungsparteien zu unterstützen oder Oppositionsparteien zu bekämpfen“. 

Was war passiert? Anfang Februar 2020 wollte die rot-rot-grüne Koalition im Thüringer Landtag den Linken-Politiker Bodo Ramelow erneut zum Ministerpräsidenten des Freistaats wählen. Da drei Stimmen zur absoluten Mehrheit fehlten, spekulierte die Koalition auf den dritten Wahlgang, für den die relative Mehrheit ausreicht. Doch es kam anders. FDP-Fraktionschef Thomas Kemmerich kandidierte, erhielt in geheimer Wahl eine Stimme mehr als Ramelow und wurde dessen (kurzzeitiger) Nachfolger. Zu verdanken hatte der Liberale seine Wahl der AfD, die neben FDP und CDU geschlossen für ihn (und nicht mehr für ihren eigenen Kandidaten) gestimmt hatte. Schnell war von einem „Tabubruch“ die Rede. Die Wut über diese demokratisch zustande gekommene Wahl war so groß, daß Linken-Fraktionschefin Susanne Hennig-Wellsow jeden parlamentarischen Anstand vermissen ließ und Kemmerich die für Ramelow bestimmten Blumen vor die Füße warf. 

„Ein guter Tag für die Demokratie“

In ihrer Empörung über den „Dammbruch“ waren sich die Linken-Politikerin und Merkel einig. Während einer Dienstreise in Südafrika äußerte sie sich als Kanzlerin auf einer Pressekonferenz und kritisierte ihre Thüringer Parteifreunde. Das Ergebnis sei „unverzeihlich“, müsse „rückgängig gemacht werden“. Die CDU solle sich nicht an einer Regierung Kemmerich beteiligen, forderte sie. Bundestagsvizepräsident Hans-Peter Friedrich (CSU) kommentierte Merkels Schnitzer ironisch: „Nach unserer Verfassung kann eine Bundeskanzlerin ein Wahlergebnis in einem Landesparlament nicht rückgängig machen“. Der promovierte Jurist hatte das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Grunde vorweggenommen.  

Darin wird Merkel vorgeworfen, sich in „amtlicher Funktion geäußert“ zu haben. Zu ihrem Verlangen, das Ergebnis der Ministerpräsidentenwahl müsse rückgängig gemacht werden, finden die Richter klare Worte. „Hierdurch hat sie die Wählbarkeit der Antragstellerin in Frage gestellt und in der Folge deren Wettbewerbslage nachteilig beeinflußt.“ Die ehemalige Kanzlerin habe mit ihrer Kommentierung die Neutralitätspflicht ihres Amtes und so das Recht der AfD auf Chancengleichheit verletzt. Damit verstieß sie gegen das Grundgesetz. 

Die Verfassungsrichter beanstandeten außerdem, daß Merkels Äußerung auf den offiziellen Internetseiten der Kanzlerin und der Bundesregierung veröffentlicht wurde. Ihre Sprecherin erklärte zum Organstreitverfahren lapidar: „Bundeskanzlerin a.D. Dr. Angela Merkel respektiert selbstverständlich die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.“ Inhaltlich äußerte sich Merkel nicht. Ihr Ziel, die Ablösung Kemmerichs und die Wiederwahl Ramelows, hatte sie erreicht. Kemmerich sagte, er „verspüre nach dem Urteil keine besonderen Emotionen“. CDU-Generalsekretär Mario Czaja gefiel sich in der Trotzrolle. Karlsruhe möge sich zur Äußerung der Bundeskanzlerin verhalten haben – „die Person Angela Merkel hatte damals aber natürlich recht“. AfD-Chef Tino Chrupalla sprach von einem „guten Tag für die Demokratie.“

Die Entscheidung war im Senat umstritten. Fünf der acht Richter stimmten dafür, drei dagegen. Bei einem Patt wären die Anträge der AfD abgelehnt worden. Die Richterin Astrid Wallrabenstein, die 2020 auf Vorschlag der Grünen in das höchste deutsche Gericht gewählt worden war, gab – selten genug – ein Sondervotum ab. Darin betonte sie, die Kanzlerin habe nicht gegen das Grundgesetz verstoßen: Regierungsmitglieder hätten nur eine „begrenzte Neutralität“, würden immer in ihrer Doppelrolle von Amt und Parteizugehörigkeit wahrgenommen. Dem Beratungsgeheimnis unterliegt, welche weiteren Senatsmitglieder abweichender Ansicht waren.

Vergleichbare Urteile gegen die Bundesminister Horst Seehofer (CSU), der das Verhalten der AfD-Bundestagsfraktion als „staatszersetzend“ und „schäbig“ bezeichnet hatte, und Johanna Wanka (CDU), die den Aufruf zu einer Demonstration gegen die AfD geteilt hatte, waren 2018 und 2020 noch einstimmig ergangen. Damals ging es nicht um die Meinungsäußerungen, sondern um deren Verbreitung auf den Internetseiten des Innenministeriums beziehungsweise des Bildungsressorts. Nicht ausgeschlossen, daß sich jetzt mit dem knappen Urteil eine Änderung der Rechtsprechung zur Neutralitätspflicht andeutet.

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