© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Grüße aus … Istanbul
Vorzügliche Lage
Stefan Michels

Touristen drängen sich an der Balustrade, Kameraobjektive surren, die schiere Wucht des Ausblicks vom mittelalterlichen Galataturm läßt niemanden unberührt. In der goldenen Nachmittagssonne eröffnet sich ein grandioses Panorama auf Konstantinopel (Istanbul), die einzige Stadt, die sich über zwei Kontinenten erstreckt. 

Man versteht beim Anblick des Bosporus sofort, diese Stadt ist das Produkt ihrer einzigartigen geographischen Lage zwischen Meer und Land, ein Drehkreuz in alle Himmelsrichtungen. So offensichtlich ist die vorzügliche Lage der Halbinsel, auf der die Altstadt gegründet wurde, daß schon das Orakel von Delphi die Einwohner von Chalcedon, einer älteren Polis auf der asiatischen Seite, abschätzig eine Ansammlung von Blinden nannte.

Schnell gerate ich in das Kreuzfeuer der Gebetsaufrufe der Hagia Sophia und der Blauen Moschee. 

Vierzehn Jahre liegt mein letzter Besuch zurück, und die Stadt scheint inzwischen aus allen Nähten zu platzen. Am Marmarameer reicht der Blick auf den asiatischen Teil – er soll der bevölkerungsstärkere sein – bis fast an den Horizont. Hunderttausend Zuzügler aus dem anatolischen Hinterland muß die Megametropole Jahr für Jahr absorbieren. Islamisch-konservativ in ihrer Grundausrichtung spielten sie eine Schlüsselrolle im politischen Aufstieg von Recep T. Erdoğan, der als Istanbuler Bürgermeister seine Karriere begann. Mit einem Moschee-Bauprogramm an strategischen Stellen der Stadt versuchten seine Epigonen den Sieg der Dorffrömmigkeit über das kosmopolitische Erbe Konstantinopels abzusichern. Dennoch verblaßt sein Schatten. Seit Juni 2019 regiert Ekrem İmamoğlu von der kemalistischen CHP Istanbul – und der 52jährige wird als möglicher Herausforderer Erdoğans gehandelt.

Am ersten Mittag gerate ich prompt in das Kreuzfeuer der sich einander ablösenden Gebetsaufrufe von Hagia Sophia und Blauer Moschee. Erstere, die bedeutendste Kirche der orthodoxen Christenheit, wurde erst vorletztes Jahr nach beinahe einem Jahrhundert Existenz als Museum wieder in eine Moschee umgewandelt. Im Innenbereich unverändert, hängt jetzt eine große Leuchtaufschrift mit dem islamischen Glaubensbekenntnis zwischen den Minaretten, während an anderen Moscheen der Eroberung 1453 mit Stolz gedacht wird.

Jenseits des Goldenen Horns bildet das Galata-Viertel den Rückzugsort der westlich orientierten, kemalistischen Türkei. Auf einem Techno-Festival hämmern Bässe die steilen Gassen zum Wasser hinunter. Verschleierte Frauen wie auch mit bauchlosen Tops bekleidete schlendern vorbei – häufig in gemischten Gruppen, die verraten, wie sehr Modernisierung und islamische Reaktion quer durch Familie und Freundeskreis laufen. Daß beides nicht zwangsläufig ins Abseits führt, zeigen die zahlreichen Verbesserungen der urbanen Infrastruktur.