© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Das kann noch Jahre dauern
Ukraine-Krieg: Moskau fordert Kiew weiter heraus, attackiert Litauen, und der Westen lockt
Marc Zoellner

Geht es nach dem Willen Marija Sacharowas, ist das düstere Schicksal der Ukraine längst besiegelt: „Die Ukraine, die Sie und ich in den Grenzen der Vergangenheit kennen, existiert nicht mehr und wird nie wieder existieren“, erklärte die Sprecherin des russischen Außenministeriums laut einem Bericht der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass.

 Zur Verteidigung ihrer These hatte Sacharowa dem Sender „Sky News Arabia“ vergangenes Wochenende ein brisantes Interview geliefert, welches auch in Rußland Aufsehen erregte. So hätten laut Aussage der hochrangigen Diplomatin bereits vier russisch okkupierte Regionen der Ukraine ihr förmliches Interesse an einem Anschluß an Rußland bekundet. Neben den beiden „Volksrepubliken“ von Lugansk und Donezk seien dies die militärisch-zivile Verwaltung der Oblast Cherson am Schwarzen Meer sowie der Oblast Saporischschja im Süden des Flusses Dnjepr. Allerdings befindet sich die gleichnamige Hauptstadt letzterer Oblast noch immer unter Kontrolle der Ukraine. 

Sacharowa steht im Kreml nicht allein mit ihren Ansichten zur Zukunft des ukrainischen Staates. Zwar hatte Rußlands Präsident Wladimir Putin Mitte Mai noch einmal betont, „der Einsatz russischer Truppen nahe Kiew und anderer ukrainischer Städte [sei] nicht verbunden mit einer Absicht, diesen Staat zu besetzen.“ Hingegen zitierte die Tass zuletzt vergangene Woche Rußlands Chef des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Dmitri Medwedew, der bezüglich eines auf zwei Jahre angelegten Vertrags Kiews mit westlichen Partnern witzelte: „Wer sagt, daß die Ukraine in zwei Jahren noch existiert?“

In der Tat findet sich die Ukraine in diesen Wochen in einer prekären militärischen Situation. In Sjewjerodonezk droht ihren Truppen die Einkesselung. Nahe Charkiw versuchen die vormals zurückgeschlagenen russischen Streitkräfte einen weiteren Vorstoß auf die zweitgrößte Stadt der Ukraine. Die Hoffnung Kiews auf einen Siegfrieden binnen Jahresfrist zerschlug sich am Wochenende mit dem Vermerk des Nato-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, das transatlantische Verteidigungsbündnis müsse „sich auf die Tatsache vorbereiten, daß der Krieg noch Jahre dauern könne.“ Gleichwohl warnte Stoltenberg davor, in der logistischen Unterstützung Kiews nachlässig zu werden, um Putin nicht glauben zu lassen, „daß er einfach so weitermachen könne wie nach dem Georgien-Krieg 2008 und der Besetzung der Krim 2014.“

EU-Chefdiplomat Josep Borrell verurteilt Moskaus „Propaganda“ 

Der Ukraine-Krieg stellt eine ungeahnte Herausforderung auch für das Verteidigungsbündnis dar. Gleichwohl verdeutlichte die westliche Verteidigungsallianz diesen Monat erneut in einem Kommuniqué, weder eigene Truppen in den Konflikt entsenden noch eine Flugverbotszone über der Ukraine errichten zu wollen. „Die Handlungen der Nato sind defensiver Natur und dazu bestimmt, Konflikte nicht zu provozieren, sondern zu verhindern“, heißt es dort. Gestärkt werden soll in der multinationalen Zusammenarbeit künftig auch die Abwehr befürchteter Cyberangriffe. Das Schwergewicht zur Beendigung des Ukraine-Kriegs sieht die Nato allerdings auf seiten der internationalen Politik – sei es durch die Anbindung der Ukraine an die EU-Strukturen oder noch umfassendere Sanktionen. 

Vor diesem Hintergrund wies der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, russische Vorwürfe zurück, daß Litauen einseitig den Landtransit zwischen Kaliningrad und anderen Teilen Rußlands gestoppt habe. Dies sei „reine Propaganda“ Moskaus, so Borrell. Litauen tue nichts anderes, als die von der EU-Kommission vorgegebenen Richtlinien umzusetzen. Dabei handele es sich um Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen für bestimmte Waren, einschließlich des Verbots der Durchfuhr dieser Waren durch das EU-Gebiet. Borrell betonte, daß Brüssel die rechtlichen Aspekte noch einmal überprüfen werde, um sicherzustellen, daß sie vollständig mit den Regeln übereinstimmten. Moskau hatte Litauens Maßnahmen als „offen feindselig“ gebrandmarkt.