© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Verrat an der Kunst
Die deutsch-russischen Kulturbeziehungen verdienen trotz des Krieges in der Ukraine eine pflegliche Behandlung
Thorsten Hinz

Die Mailänder Scala wird die neue Saison mit der Oper „Boris Godunow“ des russischen Komponisten Modest Mussorski eröffnen. Als Star der Aufführung ist die Operndiva Anna Netrebko angekündigt, die mit Beginn des Ukraine-Krieges von den internationalen Bühnen verbannt worden war. Die in Wien lebende Netrebko hatte ihr Bedauern und ihren Schmerz über die Ukraine-Invasion ausgedrückt, als Staatsbürgerin Rußlands es aber vermieden, ihr Staatsoberhaupt mit Ausdrücken zu belegen, die in der westlichen Berichterstattung gängig sind. Netrebko hat bereits in Monte Carlo, Mailand und Paris umjubelte Auftritte absolviert. Das Publikum ist offenbar anderer Meinung als die kriegerischen Kulturwächter. 

Die Philharmonie de Paris schaltete ihrem Auftritt sicherheitshalber eine Pressemeldung vor: Man sei gegen den Krieg in der Ukraine und habe Konzerte mit Künstlern gestrichen, „die mit der Macht verbunden sind: Valery Gergiev, Denis Matsuev, die Orchester des Bolschoi-Theaters, des Mariinsky-Theaters, des Russian National Orchestra und MusicAeterna“. Doch was heißt „mit der Macht verbunden“? Zu den Lebenslügen westlicher Kulturbetriebe gehört die behauptete Staats- und Machtferne, die spätestens zerplatzt, wenn es um Budgets, Preise, Stipendien, Medienpräsenz geht. Die Pariser Philharmonie möge achtgeben, daß ihr Verdikt unter veränderten Umständen nicht einmal auf sie zurückfällt.

In Deutschland sollte man sich die Parallelen vergegenwärtigen, die der „Fall Netrebko“ zum „Fall“ des Dirigenten Wilhelm Furtwängler aufweist. Furtwängler hatte das NS-Regime und insbesondere die „rassische“ Sortierung der Kunst abgelehnt und war 1933 trotzdem in Deutschland geblieben, wo er die Berliner Philharmoniker an die Weltspitze führte. Obwohl persönlich völlig unbescholten, wurde er nach dem Krieg von den Amerikanern als angebliches Aushängeschild des Regimes mit einem Auftrittsverbot belegt, das 1947 allerdings aufgehoben wurde – auch wegen der verlockenden Angebote, welche ihm die Sowjets unterbreiteten. Die komplexe und komplizierte Gemengelage hat der ungarische Regisseur Istvan Szabo in seinem Film „Taking Sides“ (2001) zu entwirren versucht.

Wie damals der „Fall Furtwängler“, entspringt die antirussische „Cancel Culture“ der Weltbürgerkriegslogik des 20. Jahrhunderts, die keine Neutralität und keinen unpolitischen Bezirk gelten läßt, sondern die totale Identifikation mit der eigenen Partei und ihrem als einzig richtig apostrophierten Standpunkt fordert. Von den Angehörigen der Gegenseite wird verlangt, die Loyalität zum eigenen Staat aufzukündigen, andernfalls sie als Person in die totale Feindschaft einbeschlossen werden.

Gegen diese Tendenz stemmte Hermann Hesse sich mit dem Aufsatz: „O Freunde, nicht diese Töne“, der am 3. November 1914 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien. Seit drei Monaten tobte der Erste Weltkrieg, der von Anfang an auch ein Propaganda- und Kulturkrieg war. Das unkluge Eingeständnis von Kanzler Bethmann Hollweg, der Durchmarsch durch das neutrale Belgien sei ein Rechtsbruch, doch die deutsche Not kenne nun einmal kein Gebot, wurde im Ausland nicht als reuiges Bekenntnis eines leidenden Idealisten, sondern als reueloses Zeugnis gesetzloser „Hunnen“-Moral rezipiert. Nach der Zerstörung der Stadt Löwen infolge belgischer Partisanentätigkeit durchbrach der Deutschenhaß alle Dämme. Hochrangige deutsche Gelehrte und Künstler antworteten im Oktober mit dem unbeholfenen „Manifest der 93“, das eine ungleich schlagkräftigere Gegenkampagne auslöste. 

In dieser aufgeladenen Situation schrieb Hesse, der zu dem Zeitpunkt aus privaten Gründen in der Schweiz lebte, er sei Deutscher, seine Sympathien und Wünsche gehörten Deutschland, und überhaupt sei gegen eine vaterländische Gesinnung nichts zu sagen, aber hier gehe es um mehr. In letzter Zeit seien ihm „betrübende Zeichen einer unheilvollen Verwirrung des Denkens aufgefallen. Wir hören von Aufhebung deutscher Patente in Rußland, von einem Boykott deutscher Musik in Frankreich, von einem ebensolchen Boykott gegen geistige Werke feindlicher Völker in Deutschland.“ Zeugnisse ausländischer Kultur dürfe man nur noch unter dem Vorbehalt loben, daß Politiker und Journalisten nicht für eine Änderung der politischen Lage sorgten.

Künstler und Gelehrte hätten in Dingen des Krieges zwar nichts zu sagen, die Militärs dürften sich von ihren Appellen nicht beeindrucken lassen. Doch dürfe man den Krieg nicht auch noch ins Studierzimmer tragen und von dort die Hirne vergiften, denn nach dem Krieg müsse man wieder zusammenarbeiten. Hesse machte sich keine Illusionen: „Krieg wird noch lange sein, er wird vielleicht immer sein.“ Die Aufgabe der im geistigen Bereich Tätigen sei es jedoch, „ein Stück Frieden zu erhalten, Brücken zu schlagen, Wege zu suchen“, statt „die Fundamente für die Zukunft Europas noch mehr zu erschüttern“.

Erschüttert waren Europas Fundamente schon vor dem Krieg. Stefan Zweig schildert in seinem Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“ ein Erlebnis vom Frühjahr 1914 in der Provinzstadt Tours südwestlich von Paris, wo er das Geburtshaus Balzacs besichtigt hatte: Das Vorstadtkino war gefüllt mit „kleinen Leuten“, mit Arbeitern, Marktfrauen, Soldaten. Im Vorprogramm liefen die „Neuigkeiten aus aller Welt“, darunter Aufnahmen vom Kaiserbesuch Wilhelm II. in Wien. Die Erscheinung des greisenhaften Kaisers Franz Joseph, der auf wackligen Beinen die Ehrenformation abschritt, löste beim Publikum ein freundliches Gelächter aus. Beim Auftritt Wilhelm II. hingegen verwandelte das Kino sich in ein Tollhaus. Die Leute schrien, stampften, pfiffen. Es war der blanke Haß. Zweig: „Die gutmütigen Leute von Tours, die doch nicht mehr wußten von Politik und Welt, als was in ihren Zeitungen stand, waren für eine Sekunde toll geworden. Ich erschrak. (…) Denn ich spürte, wie weit die Vergiftung durch die seit Jahren und Jahren geführte Haßpropaganda fortgeschritten sein mußte, wenn sogar hier, in einer kleinen Provinzstadt, die arglosen Bürger und Soldaten, bereits dermaßen gegen den Kaiser, gegen Deutschland, aufgestachelt worden waren ...“

Die deutschen Medienschaffenden müßten also gewarnt sein und bei der Wortwahl Vorsicht walten lassen. Wenn die Süddeutsche Zeitung schreibt, „die viehische, bestialische Natur dieses Gemetzels“ im Ukraine-Krieg entziehe sich „allen Vorstellungen von Greuel“, muß man ihr entgegenhalten, daß diese Greuel alles andere als präzedenzlos sind. Man denke nur an das Massaker, das amerikanische Soldaten im März 1968 im vietnamesischen My Lai anrichteten. Die kürzlich verstorbene ehemalige US-Außenministerin und Menschenrechtsheroine Madeleine Albright, befragt nach der halben Million irakischer Kinder, die infolge der US-Sanktionen verhungert waren, antwortete sinngemäß, das sei „es wert“ gewesen.

Den vorläufigen Höhepunkt bildet die Behauptung des Schriftstellers Juri Andruchowytsch in der FAZ, „Rußlands Bevölkerung (habe) sich erfolgreich selbst entmenschlicht“. Es sei dort eine „Antiwelt“ entstanden. Mehr „Haßrede“ geht kaum. Aus den Leserforen echot es im NS-Jargon zurück: „Die sind ja wie Tiere!“, „Das sind Tiere!“. „Wie die Tiere, bis zum Schluß“, „Das ist einfach kein Teil der Menschheit mehr.“

„Wie umgehen mit der russischen Kunst?“ fragt vor diesem Hintergrund die Stuttgarter Zeitung. Nun, zuerst besinnt man sich auf die Maßstäbe und kommt zu der Einsicht, daß ein einziger Roman von Dostojewski, ein einziges Theaterstück von Tschechow mehr wiegt als die Jahresproduktion, ja die Lebensleistung der medialen Zeitgeistritter. Man kann sich auch das Werk von Michail Bulgakow, geboren 1891 in Kiew, gestorben 1940 in Moskau, zu Gemüte führen. Bulgakow hat nicht nur das Jahrhundertbuch „Der Meister und Margarita“ verfaßt, von ihm stammt auch der Roman „Die weiße Garde“, der im ukrainischen Bürgerkrieg 1917/19 spielt. Keine der Parteien kommt darin gut weg, am schlechtesten aber die Petljura-Nationalisten, die kurzzeitig Kiew besetzt hielten. Gegen Ende des Romans wird die Massakrierung eines Juden geschildert: „Nur diese Leiche bezeugt, daß Peturra (Petljura) keine Mythe, sondern wirklich dagewesen war.“

Wolfgang Schäuble hat sich aus der politischen Gruft mit der Erkenntnis zu Wort gemeldet, beim Vorgehen des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Ukraine sehe er eine „erschreckende Parallele“ zu Adolf Hitler. Das ist natürlich Quatsch. Es ist aber kein Lapsus, sondern Absicht. Denn Hitler dient in der politischen Rhetorik als ein Absolutes, als Symbol des absolut Bösen, das nichts anderes verdient als die totale Feindschaft – wie jetzt auch Putin. Nun läge der Vergleich zu Stalin in der Sache näher, zumal der rote Massenmörder unter Putin eine partielle Rehabilitierung erfährt. Natürlich weiß Schäuble das, doch er ist gefangen im antifaschistischen Kosmos der Bundesrepublik, wo Stalin als ein Mit-Befreier der Deutschen vom Faschismus fungiert. Ihn zur Begründung totaler Feindschaft, mithin als zweiten Sendboten des absolut Bösen heranzuziehen, könnte zu dem Gedanken führen, daß der Antifaschismus ein nicht minder mörderisches Potential in sich birgt als der Faschismus selbst. Daraus würden sich weitere Fragen ergeben …

Im Hitler-Putin-Vergleich steckt das Bedürfnis nach Kompensation. Wie die Ukraine-Euphorie notdürftig das nationale Tabu der Deutschen kompensiert, ist die forcierte Rußland-Feindschaft eine späte Kompensation für die Verdrängung der Greueltaten der Roten Armee auf deutschem Boden, für die Namen wie Nemmersdorf, das RAD-Lager Vilmsee, Demmin oder Treuenbrietzen stehen. In der bundesdeutschen Erzählung werden sie als läßliche Kollateralschäden im Kampf des Guten gegen das absolut Böse verbucht. Die autoaggressive Formel „Deutsche Täter sind keine Opfer“ bringt diese Rechnung auf den Punkt. Doch aus Selbsthaß erwächst keine innere Ruhe, die versäumte Trauer bricht sich in Ersatzhandlungen Bahn bis hin zum antifaschistisch gewandeten NS-Jargon.

Nichtsdestrotz sind die besonderen Beziehungen zwischen der russischen und der deutschen Kultur keine Legende, sondern Tatsache. Sie verdienen eine pflegliche Behandlung. Und in den Romanen Dostojewskis und Bulgakows, den Stücken Tschechows oder im „Turandot“-Gesang der Netrebko – der dem Berliner Publikum aufgrund der Cancel Culture bisher vorenthalten blieb – steckt mehr Einsicht über die Abgründe des Menschen als in sämtlichen Äußerungen der aktuellen Kulturkrieger. Nichts Wesentliches hat sich seit 1914 geändert. „Krieg wird noch lange sein, er wird vielleicht immer sein.“ Und in seinem Windschatten der Verrat an der Kultur. Der Entschluß der Scala und die Reaktionen des Publikums in Monte Carlo, Mailand und Paris aber lassen hoffen.

Foto: Russische Matroschka: Die aus Holz gefertigten und bunt bemalten Schachtel-puppen gehören seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zur Volkskultur in Rußland