© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Aus dem Geist der Musik
Schwarze Romantik: Vor 200 Jahren ist der Schriftsteller und Komponist E.T.A. Hoffmann gestorben
Florian Werner

Die Schüsse und der Kanonendonner waren wohl noch nicht vollends verstummt, als E.T.A. Hoffmann im August des Jahres 1813 das Schlachtfeld von Dresden besichtigte. Dort hatte Napoleons Grande Armee zuvor mit Hilfe sächsischer Truppen einen ihrer letzten Siege auf deutschem Boden errungen. Ein schwer erkaufter Triumph – große Teile der stark befestigten Stadt lagen in Trümmern. Weit über 20.000 Mann waren während der Gefechte gefallen. Qualm und Leichengeruch lagen über der Elbmetropole, die nunmehr das Aussehen eines gigantischen Feldlazaretts angenommen hatte. Davon, daß die Befreiungskriege nur zwei Monate später in der Völkerschlacht von Leipzig ihren Höhepunkt erreichen sollten, war damals noch nichts zu spüren.

In der verwüsteten Landschaft rund um Dresden bot sich dem 38jährigen Schriftsteller ein Bild des Grauens. Ein Bild wohlgemerkt, welches Hoffmann im nachhinein selbst in den kräftigsten Farben ausmalte. „Auf den dampfenden Ruinen des Feldschlößchens stand ich und sah’ hinab in die mit blutigen Leichen, mit Sterbenden bedeckte Ebene. Das dumpfe Röcheln des Todeskampfes, das Gewinsel des Schmerzes, das entsetzliche Geheul wütender Verzweiflung durchschnitt die Lüfte, und wie ein ferner Orkan brauste der Kanonendonner, die noch nicht gesättigte Rache furchtbar verkündend.“ Mit breiten Pinselstrichen schildert Hoffmann in seiner Vision auf dem Schlachtfeld von Dresden – hierin den „Stahlgewittern“ von Ernst Jünger vorgreifend – die grausige Schönheit, die im Schrecken des Krieges steckt. Dieser Schrecken und dieses Grausen sind es auch, die das weitere Schaffen des Künstlers bestimmten. Aus ihnen schuf er eine Ästhetik, die sich irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Anmut und Angst bewegt.

Mit seinen Schauergeschichten gilt er als Erfinder des Horror-Genres

Oft wird E.T.A. Hoffmann deshalb als Erfinder des Horrors bezeichnet – als einer, der in Umkehrung des Grimmschen Märchentitels auszog, um das Fürchten zu lehren. Sigmund Freud widmete dem Dichter sogar eigens einen Essay mit dem vielsagenden Titel „Das Unheimliche“. Das führte im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Veröffentlichung Dutzender psychoanalytischer Fachartikel mit so sonderbar klingenden Namen wie „Der Kastrationskomplex im Sandmann“ oder „Der Penisneid im Nußknacker“. Ein zweifelhaftes Geschenk für den Dichter, dessen Todestag sich am 25. Juni zum 200. Mal jährt. Doch ganz gleich, wie abseitig die modernistische Würdigung des Romantikers vielleicht auch erscheinen mag – einen wahren Kern hat sie doch.

Wie kein zweiter verstand E.T.A. Hoffmann sich darauf, die menschliche Natur in schauerlichen, geheimnisvollen und oftmals brutalen Bildern zu verschlüsseln. Nicht umsonst schreibt Freud in seinem Essay über Hoffmann, „daß das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist“. Die in Hoffmanns Gruselgeschichten geschilderte sinnliche Leidenschaft, der brennende Haß und der Kampf auf Leben und Tod gehören genauso zur conditio humana wie das vernünftige Denken, die zärtliche Liebe und Vergebung. Aber sie sind die dunklen Seiten der menschlichen Natur – deren abgründige, ja „dionysische“ Seite, wie Friedrich Nietzsche sich womöglich ausdrücken würde.

E.T.A. Hoffmann setzt der gefährlichen Natur des Menschen ein literarisches Denkmal, indem er ihr ein übernatürliches Aussehen verleiht. Sowohl die namenlose Angst, die Nathanael im „Sandmann“ beim Anblick des Brillenschleifers Coppelius ergreift, als auch der schier unerträgliche Schmerz des Andres auf der Folterbank im „Ignaz Denner“ gehören zu den dunklen Konstanten des Menschseins.

Die Schlacht um Dresden mit all ihren Greueln war indes nicht Hoffmanns einziges Rendezvous mit der Weltgeschichte. Viele Jahre später arbeitete der gebürtige Königsberger als preußischer Beamter für die „Untersuchungskommission zur Ermittlung hochverräterischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe“. In dieser Funktion mußte er zahlreiche Einschätzungen zu den überall in Deutschland aufkeimenden Burschenschaften abgeben.

Als preußischer Beamter arbeitete er als Zensor wider Willen

Auch die Akte des infolge der Karlsbader Beschlüsse inhaftierten Friedrich Ludwig Jahn ging während dieser Zeit über seinen Schreibtisch in Berlin. Weil der Poet jedoch meistens – auch im Fall des „Turnvaters – ziemlich milde Gutachten ausstellte, brachte er schon bald seine Vorgesetzten gegen sich auf. Über diese schrieb Hoffmann daraufhin seine beißende Parodie „Meister Floh“, die ihm Verhöre und ein Disziplinarverfahren einbringen sollten. Die Humoreske reiht sich ein in einen ganzen Schwank aus Karikaturen und Satiren aus der Feder des Dichters. So gerne wie er sich gruselte, lachte Hoffmann offenbar.

E.T.A. Hoffmann hatte jedoch nicht nur für das Schreiben, sondern auch für die Musik ein besonderes Talent. Um sich voll und ganz seinen Kompositionen widmen zu können, schied er sogar zeitweilig aus dem preußischen Staatsdienst aus. In Bamberg und Leipzig arbeitete er daraufhin als Dirigent und Musikkritiker. Er schrieb Beiträge für die Allgemeine Musikalische Zeitung. Die von ihm ins Blatt gebrachte Kunstfigur des Kapellmeisters Johannes Kreisler sollte Robert Schumann zur Komposition der berühmten Kreisleriana-Klavierstücke inspirieren. In seinen Artikeln bewies Hoffmann ein feines Gespür für den musikalischen Puls seiner Zeit. Ähnlich wie später Arthur Schopenhauer attestierte auch er der Musik in seinen Zeitschriftenbeiträgen die Fähigkeit, dem Menschen das wahre Wesen der Welt zu erschließen.

So schreibt er etwa in einem Aufsatz mit dem Titel „Beethovens Instrumentalmusik“: „Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgibt, und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben.“ Dieser Wesenskern der Welt hinter dem Schein der Dinge ist es auch, den E.T.A. Hoffmann durch seine Prosa – mal in Form eines kalten Grausens, mal in der eines schallenden Gelächters – einzufangen versucht. Musik und Literatur greifen hier ineinander über und verschwimmen miteinander.

Die Sätze, die Nietzsche in seiner „Geburt der Tragödie“ über das Verhältnis von Musik und Dichtung schreibt, machen insofern den Eindruck, als wären sie eigens auf Hoffmann gemünzt: „Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nötigte.“ Hoffmann, der seine Initialen zu Ehren Mozarts um den Buchstaben A – für „Amadeus“ – erweiterte, der Beethoven vergötterte, Haydn verehrte und auch selbst komponierte, schrieb seine schauerlichen Erzählungen vielleicht also auch aus einem musikalischen Impuls heraus. „Musikalisch“ hier im Sinne von Nietzsche und Schopenhauer verstanden, als über das bloße Äußere der Dinge hinausgehend. Nur ist ihr Inneres für den Dichter des „Nußknackers“ und des „Katers Murr“ eben nicht eitel Sonnenschein, sondern dunkel, roh und schauerlich. Was E.T.A. Hoffmann in seinem literarischen Werk geleistet hat, ließe sich deshalb auch als „Geburt der Romantik aus dem Geiste der Musik“ bezeichnen – ein guter Grund, sich auch nach 200 Jahren noch an ihn zu erinnern.

Foto: E.T.A. Hoffmann (1776–1822): Er schuf eine Ästhetik zwischen Traum und Wirklichkeit