© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

In den Klauen des Greifers
Kino: Der Film „The Black Phone“ handelt von Gewalt gegen Kinder
Dietmar Mehrens

Ein kahler grauer Kellerraum mit einer Pritsche und einem altmodischen schwarzen Telefon an der Wand. Das Telefon klingelt. Der Junge, der in der schalldicht isolierten Zelle gefangengehalten wird, geht ran. Die Stimme, die sich meldet, ist eine Stimme aus dem Jenseits.

Scott Derricksons Verfilmung der gleichnamigen Kurzgeschichte von Joe Hill führt in das Jahr 1978. Die Kinder fahren Bonanza-Räder, tragen lange Haare und Björn-Borg-Stirnbänder. In einem kleinen Haus im Norden von Denver leben der 13jährige Finney Shaw (Mason Thames) und seine Schwester Gwen (Madeleine McGraw). Ihr Vater (Jeremy Davies), eine prekäre Existenz, führt nach dem frühen Tod der Mutter ein strenges Regiment und reagiert irritiert, als Gwen Besuch von der Polizei bekommt. Der Grund: Das Mädchen hat von schwarzen Luftballons geträumt. Und genau solche schwarzen Ballons sind im Zusammenhang mit dem rätselhaften Verschwinden von Bruce Yamada aufgetaucht. „Manchmal stimmen meine Träume“, erklärt Gwen den verblüfften Ermittlern.

Yamada ist bereits das vierte vermißte Kind in einer rätselhaften Serie. Kurz darauf verschwindet auch Robin, ein Freund von Finney, spurlos. Und schließlich begegnet Finney selbst dem unheimlichen Maskierten mit den schwarzen Ballons und landet als dessen Gefangener in dem Verlies mit dem schwarzen Telefon. Während Gwen zu Hause eine Gideon-Bibel auf den Tisch legt und Jesus um hilfreiche Träume bittet, klingelt bei Finney in seinem Kellerloch immer wieder das seltsame Telefon.

Das Hauptaugenmerk liegt auf Schauereffekten 

Es ist ein heikles Thema, dessen sich Regisseur und Drehbuchautor Scott Derrickson mit „The Black Phone“ angenommen hat: Kindesentführung und Kindesmißhandlung. 2021 verschwanden in Deutschland laut BKA 4.763 Minderjährige; jeden Tag werden 49 Kinder sexuell mißbraucht – Tendenz steigend. Nur selten erfährt die breite Öffentlichkeit von dem unermeßlichen Leid der Gepeinigten, etwa wenn eines der Opfer sich spektakulär befreien kann wie im Jahr 2006 Natascha Kampusch.

Ethan Hawke als der unheimliche „Greifer“, der hinter den furchtbaren Verbrechen steckt, die schließlich ans Licht kommen, ist ein menschliches Monstrum, das es in puncto Gräßlichkeit sowohl mit dem „Joker“ aus der „Batman“-Saga als auch mit dem Grusel-Clown aus „Es“ von Joe Hills Vater Stephen King aufnehmen kann. Ob sich allerdings ausgerechnet ein Gruselschocker eignet, um auf das reale Elend der Opfer aufmerksam zu machen, darf bezweifelt werden, denn Derricksons Hauptaugenmerk gilt Schauer- und Spannungseffekten und nicht dem Leid der Kinder.

Kinostart ist am 23. Juni 2022