© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Blick in die Medien
Wissenschaft goes woke
Mathias Pellack

Schleichend schreitet die Begriffsverwirrung voran und erfaßt auch so alt-ehrwürdige naturwissenschaftliche Magazine. „Anything goes“, schrieb noch 1975 der Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend in seinem Standardwerk „Erkenntnis für freie Menschen“. Der Philosoph bezieht dort Stellung und legt dar, daß es oft gerade Regelbrecher wie Galileo Galilei oder Isaac Newton waren, die Wissenschaften vorangebracht haben. Und nun kommt das 1869 gegründet, mittlerweile das weltweit best-renommierte Wissenschaftsmagazin Nature und erlegt sich als Instanz mit ungeheuerer Vorbildwirkung neue zeitgeistige Richtlinien auf. Das Ziel: Forschung dürfe „keinen Schaden“ anrichten. 

Das birgt erhebliches Problempotential. Denn „Redakteure, Autoren und Gutachter“ sollen fortan nicht nur „gemeinsam Nutzen und Schaden“ der menschenbezogenen Publikationen abwägen. Nein, sie sollen im „Gefahrenfall“ auch Studien markieren. Dabei müsse sogar mitbedacht werden, ob die fragliche Forschung von Dritten so zweckentfremdet werden könnte, um etwa Menschenwürde und Menschenrechte von  anderen herabzusetzen.

Befindlichkeiten einiger sich angegriffen Fühlender dürfen nicht der Maßstab sein für das, was erforscht wird.

Unter solchen Bedingungen ist Wissenschaft nicht mehr frei. Sie kann dann nicht mehr unvoreingenommen forschen. Wissenschaft muß methodisch sauber, nachvollziehbar sein und Wahres zum Vorschein bringen. Und sonst nichts. Die Vorwände einiger sich ständig angegriffen fühlender Ankläger, die daraus ein Geschäftsmodell gemacht haben, dürfen nicht den Maßstab bilden für das, was erforscht wird. Denn was passiert, wenn Forschungsarbeiten „möglicherweise schädlich“ sind? Nature will die Studien immerhin nicht löschen und verteidigt pro forma die „akademische Freiheit“. Sie ist „eine grundlegende und nicht verhandelbare Prämisse der Wissenschaft“, heißt es. Doch weiter: „Sie ist jedoch nicht grenzenlos.“ Wie so oft werden deratige Regeln zu übermäßiger Selbstzenzur führen. So kann es sein, daß Hilfreiches, Nützliches oder Wissenswertes nie an die Öffentlichkeit gelangt, weil Forscher vorab die oft teure und zeitintensive Suche nach neuem Wissen einstellen. Feyerabend würde heute konstatieren: Anything goes woke.