© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Die Blase sprengen
Junge Youtuber zeigen unserer Gesellschaft ihre Spaltung auf
Eric Steinberg

Ketzer: „Das ist jemand, der öffentlich eine andere als die in bestimmten Angelegenheiten für gültig erklärte Meinung vertritt“, beschreibt der Youtuber Leonard Jäger sich selbst auf seinem Kanal „Ketzer der Neuzeit“. Der junge Blondschopf mit dem Markenzeichen Schiebermütze gehört seit zwei Jahren zu den Kritikern der Politik auf Youtube. Anfangs noch mit Michél gegründet, betreibt er den Kanal mittlerweile mit Aaron. Insgesamt über 80.000 Abonnenten folgen ihnen. Auch der Zweitkanal „Ketzer der Neuzeit – TV“ kommt auf 20.000 Abos. Gleich sein zweites Video, ein Vergleich zwischen dem Orwell-Klassiker „1984“ und dem Leben im Jahr 2020, erreicht über 67.000 Aufrufe. Doch woher kommt dieser schnelle Ruhm? Und ist er von Dauer?

Der Erfolg ist anhand der thematischen Ausrichtung des Kanals zu erklären. Er bedient vor allem gesellschaftlich besonders heiß diskutierte Themenfelder, die sich in der liberal-konservativ bis rechten Blase Anklang finden: die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien, Kritik an „Fridays for Future“ oder auch der oft diffamierende Umgang mit Ungeimpften. In der Umsetzung der Inhalte hebt er sich jedoch nicht vom Youtube-Mainstream ab – was funktioniert, wird kopiert. 

So spielt der Großteil der Clips auf der Straße, zeigt Gesichter und Meinungen. Jäger selbst erklärt der JUNGEN FREIHEIT, er wolle Themen behandeln, die gesellschaftlich großes Spaltpotential besitzen: „Denn was bringt es, wenn wir hier unten uns die Köpfe einschlagen, während unsere Zukunft von oben herab und gegen unsere Interessen entschieden wird?“

Leo Lowis, wie Jäger sich nennt, kommt in den kurzen Filmen häufig kommentierend zu Wort und schärft so das politische Bild, das die Videos vermitteln sollen. So fügt er in einer Straßenumfrage zum Thema Corona hinzu: „Unsere Medien berichten ja eher weniger über Beispiele von Ländern, in denen man in dieser Zeit auch ohne Maßnahmen lebt.“ Der junge Mann agiert als Provokateur, der den Umfrageteilnehmern allerdings fast immer mit einem verschmitzten Grinsen begegnet. 

Das mag in der jeweiligen Situation zwar einseitig und alles andere als neutral erscheinen, effektiv sind seine gezielten Nadelstiche aber gerade deshalb. Im Gegensatz zum Inhalt sind die Aufmachung des „ketzerischen“ Kanals und die jeweiligen Videovorschauminiaturen im Youtube-Business nicht ungewöhnlich. Die Zuschauer werden mit prägnanten Überschriften wie „Ich bin Russin, gibst du mir die Hand?“ oder „Das passiert, wenn du einen Antifa-Punk ansprichst…“ auf den Kanal gelockt. Auch hübsche Damen oder schreiende Herrschaften als Publikumsmagneten in der Vorschau dürfen für den Neuling nicht fehlen. Wem das gefällt, der bekommt sämtliche Inhalte auch auf Instagram, Twitter und dem Telegram-Kanal angepriesen. Waren Maßnahmenkritiker bisher eher älter, schafft der 22jährige nun eine Anlaufstelle für junge Zuschauer, die den gegenwärtigen Politzirkus hinterfragen. „Ziel des Kanals war es, die jüngere Generation aus einer anderen Sichtweise, als man sie aus Schule und Medien kennt, zu erreichen“, erklärt Jäger die Gründung.

Twitterer vermuten „Reichsbürger“-Hintergrund

Mit seiner wachsenden Bekanntheit verkauft er eigenes Merchandise, T-Shirts und Tassen, für das er in seinen Clips selbst als Model wirbt. Die Waren sind meist schlicht gestaltet, nehmen dabei aber auch linke Klassiker wie „Kein Mensch ist illegal“ aufs Korn. Die Ketzer-Variante lautet: „Kein Ungeimpfter ist illegal“. Auch das gehört zu den gezielten Nadelstichen des jungen Unterhalters. 

Gegründet wurde der Kanal anschließend an die große Corona-Demonstration in Berlin im August 2020. Sein inzwischen ehemaliger Kanal-Mitbetreiber Michél fragte Jäger, ob dieser auch vor Ort sei. „Im Sommer 2020 kam uns fast zeitgleich der Gedanke, man müsse aktiv werden und Videos in diese Richtung bringen, gerade für jüngere Zuschauer“, heißt es im Gründungvideo.

Das stößt nicht nur auf Gegenliebe. Seit den Anfängen wird der Kanal mit der Verschwörer­szene in Verbindung gebracht. Der Twitter-Account Reaver_Phoenix schreibt zu den Ketzern: „Ketzer der Neuzeit ist ein von Leonard Jäger und Michél geschaffenes Projekt, um Jugendliche über diverse Social-Media-Kanäle mit Verschwörungserzählungen und Reichsbürger-Ideologien zu desinformieren.“ Dazu ein Screenshot vom Impressum des Internetauftritts der Ketzer, der einen Markus Konsorr als „vertragsberechtigten Gesellschafter“ nennt. 

Über Konsorr heißt es: „Mutmaßlich seit vielen Jahren in der Reichsbürger-Szene aktiv und vermutlich bis heute der Vize-Vorsitzende der ‘Deutschen Souveränitäts Partei’, genannt DSP.“ Ob diese Partei überhaupt noch existiert, läßt sich nicht bestätigen. Den angeblichen Kontakt zu Konsorr dementiert uns Jäger aber auch nicht. Allerdings positioniert er sich zur „Reichsbürgerszene“ gegenüber der jungen freiheit vieldeutig. Das sei nicht sein „Hauptsteckenpferd“, aber: „Hier fällt mir die Begrifflichkeit ‘Reichsbürger’ immer wieder auf, die implizieren soll, man identifiziere sich mit dem Nationalsozialismus. Aber genau darum gehe es nicht, wenn man die juristische Grundlage der BRD hinterfrage.“ Und er ergänzt getreu seiner Linie: „Und weil das Thema so ein heißes Eisen ist, macht es das schon interessant, sich damit auch mal zu beschäftigen.“

 www.youtube.com/c/KetzerderNeuzeit

Foto: Youtuber Aaron: „Das passiert, wenn du einen Antifa-Punk ansprichst ...“