© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

„Für das deutsche Volk gebe ich gern mein Leben“
Vor hundert Jahren verübten rechtsextremistische Verschwörer ein Attentat auf Reichsaußenminister Walther Rathenau / Die politischen Visionen des jüdischen Patrioten dürften im Urteil der Politischen Korrektheit von heute keine Gnade finden
Karlheinz Weißmann

Am 8. „Ernting“ – August – 1916 richtete Otger Gräff aus „Welsch-Lothringen“ einen Brief an Wilhelm – „Wilm“ – Schwaner, in dem es hieß: „… selbst wenn es so wäre, daß er unser Retter ist, eine Schande wär es für das deutsche Volk, daß ein Semit es sein muß.“ Die Sätze bezogen sich auf Walther Rathenau und stammten von dem charismatischen Führer des Wandervogels e. V., der mitgliederstärksten Gruppierung der deutschen Jugendbewegung. Gräff war gleichzeitig Gildemeister des Greifenbundes, den er in der Absicht gegründet hatte, eine Art völkischen Elitekader aufzubauen. Schwaner, der Empfänger des Schreibens, zählte dagegen zu den Veteranen der Völkischen, auf die er mit seinen Schriften und dem Bund der Volkserzieher erheblichen Einfluß ausübte. Es war insofern keine Selbstverständlichkeit, wenn Gräff in bezug auf den „Fall Rathenau–Volkserzieher“ gegen die Linie Schwaners opponierte.

Den Hintergrund des „Falls“ bildete die enge Beziehung zwischen Schwaner und Rathenau, die nach dem Erscheinen von Rathenaus Buch „Zur Kritik der Zeit“ im Jahr 1912 entstanden war. Es handelte sich bei dem Band um den ersten großen publizistischen Erfolg Rathenaus, der im wilhelminischen Deutschland aber alles andere als ein Unbekannter war. Am 29. September 1867 geboren, zählte er zu den sogenannten „Kaiserjuden“, jener relativ kleinen Gruppe einflußreicher Männer, die – trotz der Reserve, mit der man sie wegen ihrer Herkunft betrachtete – zur gesellschaftlichen Elite zählten. Für Rathenau war der Weg in diesen exklusiven Kreis bereits dadurch gebahnt worden, daß sein Vater Emil Rathenau die Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft (AEG) gegründet und ein enormes Vermögen erworben hatte.

„Gemeinwirtschaft“ als Basis für die Neuordnung der Gesellschaft

Zur Enttäuschung des Vaters zeigte der junge Rathenau allerdings keine Neigung zum Geschäftsleben. Sein Interesse gehörte früh Philosophie, Literatur und Kunst. Nur aus Pflichtgefühl studierte er Physik und Chemie, dann auch noch Maschinenbau, und trat nach einigem Zögern in die väterliche Firma ein. Was ihn nicht hinderte, sich weiter mit schöngeistigen und dann auch mit politischen und sozialen Fragen zu beschäftigen. Rathenaus Bühnenstücke zirkulierten aber nur als Privatdruck, erst die Veröffentlichung des Aufsatzes „Höre Israel“ in Maximilian Hardens Monatsschrift Die Zukunft verschaffte ihm breite Aufmerksamkeit. 

Ursprünglich sollte der Text mit dem Satz beginnen: „Bedarf es einer Rechtfertigung, wenn ich zum Antisemitismus neige?“ Rathenau hat ihn für den Druck abgemildert zu: „Bedarf es einer Rechtfertigung, wenn ich in anderem Sinne schreibe als dem der Judenverteidigung?“ Was folgte, war eine Art Abrechnung mit dem Judentum in schärfstem, teilweise höhnischem Ton. Dabei bestritt Rathenau keineswegs die Ungerechtigkeit der pauschalen Urteile und das Furchtbare der früheren Judenverfolgungen und daß ungeklärt sei, ob es eine Macht gebe, die die Juden „vor dem zu beschützen vermag, was ihre Väter erlitten haben“, aber das eigentliche Versagen sah er doch bei seinen eigenen „Rassegenossen“, die sich absonderten, unwillens, in den Nationen aufzugehen, unter denen sie lebten. Sie versagten seiner Meinung nach vor der notwendigen Anstrengung, „nicht imitierte Germanen, sondern deutschgeartete und -erzogene Juden“ zu werden.

Ein Vorwurf, der um so schwerer wog, als Rathenau selbst einer lange ansässigen Familie sephardischer Juden entstammte und sich schon in seiner Jugend mit Entschiedenheit als Preuße und Deutscher bekannt hatte. An dieser Haltung wurde er auch nicht irre, nachdem er seinen Wehrdienst im vornehmen Regiment der Garde-Kürassiere geleistet hatte und man ihm das Offizierspatent verweigerte. Voller Erbitterung stellte er fest, daß er als Jude nur „Bürger zweiter Klasse“ sei, zog daraus aber nicht die Folgerung, die man angesichts seiner Herkunft und seiner liberalen Überzeugungen erwarten konnte, sondern befaßte sich auf eine fast obsessive Art mit der „Rassenfrage“. Rathenau glaubte, daß von deren angemessener Beantwortung Entscheidendes für die Zukunft des Reiches abhänge. Ein Sachverhalt, der auch in der erwähnten Schrift „Zur Kritik der Zeit“ eine Rolle spielte, in der er „Mechanisierung“ und „Entgermanisierung“ verknüpfte. Das heißt, Rathenau war überzeugt, daß sich in Europa eine Entwicklung vollziehe, die einerseits durch den Siegeszug von Naturwissenschaft und Technik alle überlieferten Lebensformen in Frage stellte, andererseits jene Nationen in unaufhaltsamem Niedergang begriffen seien, die seit dem Ende Roms das Schicksal des Kontinents bestimmt hatten.

Eine Vorstellung, die weitgehend dem Geschichtsbild der Völkischen entsprach, dort allerdings kombiniert mit der latenten Angst der „Blonden“ vor den „Dunklen“, insbesondere den Juden. Wenn Schwaner diese Sicht der Dinge nicht geteilt hat, sondern in Rathenau einen Seelenverwandten sah, dann auch, weil sein Begriff von Rasse wie derjenige Rathenaus immer zwischen Biologisierung und Spiritualisierung schwankte und letztlich die Spiritualisierung den Ausschlag gab. 1913 setzte die Korrespondenz der beiden ein, und Schwaner gehörte bald zu dem sehr kleinen Kreis von Duzfreunden Rathenaus. Rathenau nannte ihn vertraulich „Lieber Wilm“, Schwaner begann seine Briefe mit „lieber Freund“ und sogar mit „lieber Freund und Bruder“.

Geht man die Schreiben durch, fällt vor allem auf, wie stark sich Schwaner der Überlegenheit Rathenaus bewußt war. Was auch erklärt, warum er nach Beginn des Krieges mehrfach öffentlich bekundete, daß er in Rathenau den berufenen Führer Deutschlands sehe. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als sich in völkischen Kreisen und darüber hinaus eine immer stärkere Hetze gegen Rathenau verbreitete.

Aversionen hatte Rathenau seit je geweckt: Das Spektrum reichte vom Spott, er sei der „Jesus im Frack“, über die Verratsvorwürfe der Zionisten, die ihm seine Forderung nach Assimiliation nicht verziehen, bis zu den Haßausbrüchen der Antisemiten gegen den Mann, der als „Deutscher jüdischen Stammes“ auftrat. Der Ton verschärfte sich noch, als Rathenau seine Fähigkeiten und Kenntnisse für den Aufbau der Kriegs-Rohstoff-Abteilung des Preußischen Kriegsministeriums anbot. 

Gerade aufgrund seiner Erfahrungen in der Elektrizitätswirtschaft und ihrer Tendenz zur Kartellbildung war er überzeugt, daß eine Konzentration großer Industriebereiche unumgänglich sei, aber der Steuerung bedürfe, um die Macht der Unternehmer zu beschneiden, die Ausbeutung der Arbeiter zu verhindern und die Ökonomie in den Dienst des größeren Ganzen zu stellen. Für dieses Konzept bürgerte sich der Begriff „Gemeinwirtschaft“ ein, und während viele Beteiligte der Meinung waren, es handele sich nur um ein System von Aushilfen für den Kriegsfall, glaubte Rathenau, daß man es mit der Basis für die Neuordnung der Gesellschaft zu tun habe. Seine Erwartung verknüpfte sich außerdem mit einem anderen Projekt, das er schon 1911 entworfen hatte: der Schaffung einer europäischen Konföderation mit Deutschland und Frankreich als Kern, gegen die angelsächsischen Weltmächte wie Rußland gleichermaßen.

Nationalistischen Verschwörern galt er als „Erfüllungspolitiker“

Im vorletzten Kriegsjahr veröffentlichte Rathenau ein weiteres Buch unter dem Titel „Von kommenden Dingen“. Es sollte sein erfolgreichstes werden. Aber zum Zeitpunkt des Erscheinens war schon klar, daß der Krieg weder den „Volksstaat“ hervorbringen noch zu einer konstruktiven Lösung der europäischen Frage führen werde. Dann kam das überstürzte deutsche Ersuchen um Waffenstillstand im Herbst 1918. Rathenau beobachtete die folgende Entwicklung mit wachsender Verzweiflung, denn er wußte sehr genau, daß der Gegner nicht nur auf einen militärischen Sieg, sondern auf die „Vernichtung des deutschen Lebens jetzt und in alle Zukunft“ zielte. In vorletzter Stunde, am 7. Oktober 1918, veröffentlichte er in der Vossischen Zeitung einen Aufruf zur „Levée en masse“. Der Text führte in der Öffentlichkeit zu erregten Debatten, aber die militärische Führung erklärte eine Volkserhebung nach dem Vorbild von 1813 für aussichtslos, und die Regierung lehnte den Plan ab.

Rathenau hat in der Folge weiter durch seine Publikationen Einfluß zu nehmen versucht und gleichzeitig mit Sorge beobachtet, wie verhärtet die Fronten zwischen den politischen Lagern waren. Nachdem er im Mai 1921 das Reichsministerium für den Wiederaufbau und im Januar 1922 das Außenministerium übernommen hatte, mehrten sich Hinweise auf die Gefährdung seiner Person, nicht nur wegen seiner jüdischen Herkunft, sondern auch weil er als „Erfüllungspolitiker“, wenn nicht als Agent der Feindmächte galt. Immerhin konnte er durch den Überraschungscoup der Verständigung mit der Sowjetunion im Vertrag von Rapallo dem Reich etwas Luft verschaffen, angesichts der exorbitanten Reparationsforderungen der Sieger.

Gedankt wurde ihm das nicht. Vielmehr waren zu dem Zeitpunkt die Pläne seiner Mörder weit gediehen. Sie hatten sich entschlossen, das in die Tat umzusetzen, wovon viele nur phantasierten: Am 24. Juni 1922 verübte eine Gruppe nationalistischer Verschwörer in Berlin während einer Autofahrt das Attentat auf Rathenau, der, von fünf Schüssen getroffen, kurz darauf verstarb. Schwaner widmete dem Freund einen Nachruf, in dem es hieß: „Wir haben es alle vorher gewußt, daß es ihn treffen würde. (…) Noch nie ist, soweit meine beinahe dreißigjährige Zeitungserinnerung reicht, ein Mann der Öffentlichkeit andauernd mit solch wütendem und höllischem Haß verfolgt worden. (…) Wenn um sein Leben besorgte Freunde ihn gelegentlich zur Abwehr überreden wollten, so lächelte er und bat, sich seinetwegen nicht aufzuregen oder gar persönlicher Gefahr auzusetzen. Denn er habe ein gutes Gewissen, und damit wolle er auch im Tode bestehen. (...) Als er im vorigen Jahre Wiederaufbauminister wurde, da habe ich ihm geraten, sich auf den nahen Tod vorzubereiten. Er antwortete in der ihm eigenen herzlichen und gerade zu priesterlich ruhigen Weise: ‘Mein lieber Wilm! Dein Volk ist mein Volk! Und für das deutsche Volk gebe ich gern mein Leben – wenn es nur zu seinem Heile ist.’“

Foto: Walther Rathenau um 1917: Er verzweifelte an der deutschen Niederlage 1918 und wollte eine Volkserhebung nach dem Vorbild von 1813 organisieren