© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Ein verhinderter Ausgleich
Vor 125 Jahren erschütterten die Badeni-Krawalle die k.u.k. Monarchie / An der Sprachenpolitik gegenüber den Tschechen drohte die politische Handlungsfähigkeit zu zerbrechen
Lothar Höbelt

Die Badeni-Krawalle sind das vielleicht berühmteste, nein: berüchtigtste Kapitel des altösterreichischen Parlamentarismus. Sogar Mark Twain widmete ihnen eine Reportage, die erst unlängst vom österreichischen Parlament neuaufgelegt wurde. Zum ersten Mal legte die Obstruktion den Reichsrat über Monate, ja Jahre hinaus lahm. Die Krise wurde oft als das Ende des Parlamentarismus in Österreich betrachtet. Doch – um wiederum mit Mark Twain zu sprechen – die Nachrichten von seinem Hinscheiden waren stark übertrieben.

Der Aufruhr war Teil des Nationalitätenkonflikts, vor allem zwischen den beiden Streithähnen in Böhmen, (Sudeten-)Deutsche und Tschechen. Und es ging, beinahe noch typischer für „Kakanien“, um die Beamten. Die sogenannte österreichische Reichshälfte war zwanzig Jahre von den Deutschliberalen regiert worden, dann ein Dutzend Jahre von einem „Eisernen Ring“ aus Slawen und Klerikalen, schließlich anderthalb Jahre von einer kurzlebigen Großen Koalition. Seither führte der ehemalige Statthalter von Galizien, Graf Kasimir Badeni – wegen seines Aussehens gerne mit Bismarck verglichen – ein Ministerium über den Parteien, das sich seine Mehrheiten von Fall zu Fall suchen mußte. Nun stand 1897 eine besonders heikle Vorlage an, die alle zehn Jahre anstehende Neuverhandlung des finanziellen „Ausgleichs“ mit der ungarischen „Reichshälfte“. Deshalb wollte Badeni die „Arbeitsmehrheit“ seines Kabinetts vorsorglich verbreitern und auch die Tschechen mit ins Boot holen.

Das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen verhärtete sich

Was er ihnen anbot, waren Sprachenverordnungen, die besagten, daß Beamte in Böhmen künftig beider Landessprachen mächtig sein sollten. Das klang auf den ersten Blick recht fair und vernünftig. Allerdings: Gut gemeint ist oft das Gegenteil von gut. Denn die tschechischen Gymnasiasten lernten in der Schule Deutsch, die Deutschen aber Französisch als Fremdsprache. Zweisprachige Bewerber waren daher voraussichtlich meist Tschechen. Gegen diese Benachteiligung deutscher Kandidaten erhob sich ein Sturm der Entrüstung. Ein kluger Beamter, der seine Pappenheimer kannte, meinte, es wäre wohl alles viel friedlicher abgegangen, hätte man den Herrschaften für das Erlernen der zweiten Landessprache großzügige Gehaltszulagen in Aussicht gestellt.

Die Deutschen waren die größte Volksgruppe der Monarchie, verfügten aber über keine Mehrheit mehr. Außerdem war ihr Parteienspektrum gerade im Umbruch begriffen. Die alten „Deutschliberalen“ waren ausdifferenziert in drei oder vier Parteien. Badeni redete ihnen allen gut zu, sie sollten die Verordnungen doch schlucken, sonst werde er erst recht gezwungen sein, mit ihren Gegnern zu regieren. Doch darauf wollte sich keiner einlassen. Liberale und Alldeutsche zankten sich darüber, wer als erster auf die Königsidee verfallen war: Gegen einen solchen Angriff auf die nationale Existenz reiche bloße Opposition nicht aus, sondern man müsse zur Obstruktion greifen. 

Obstruktion konnte heißen: Dauerreden – Otto Lecher, ein junger liberaler Abgeordneter aus Brünn, wurde über Nacht berühmt, als er vierzehn Stunden am Stück sprach. Man konnte Krach schlagen im Hohen Haus, von Pultdeckelkonzerten bis zu Trompeten und Trillerpfeifen. Oder man verlegte sich auf die sogenannte technische Obstruktion: Zwanzig Abgeordnete konnten dringliche Anfragen einbringen. 50 von ihnen über noch so periphere Fragen immer wieder namentliche Abstimmung beantragen – die ließe sich heute auf Knopfdruck bewerkstelligen, damals dauerte das namentliche Aufrufen von über 400 Herren geraume Zeit. 

In Deutschböhmen fanden im Sommer 1897 riesige Protestversammlungen statt. Wurden sie von den Behörden verboten, wich man ins benachbarte Bayern oder Sachsen aus. Die Krise fand im Deutschen Reich regen Widerhall: Man dürfe „die Schmerzensschreie“ der Brüder in Österreich nicht überhören. Nur Kaiser Wilhelm II. blieb skeptisch: Die nationale Karte stach bei ihm nicht. Die Revoluzzer in Österreich erinnerten ihn zu sehr an die Opposition daheim.

Im Herbst 1897 steuerte die Krise dem Höhepunkt zu: Badeni sah sich veranlaßt, den alldeutschen Abgeordneten Karl Hermann Wolf zum Duell zu fordern, das ihm einen Schuß in den Arm und zudem noch den Groll der Duellgegner unter den Katholiken einbrachte, seinen Gegner hingegen zum Schwarm der Damenwelt machte. Die Regierung überredete die slawischen Mehrheitsparteien, die Geschäftsordnung in einem gesetzeswidrigen Verfahren zu novellieren. Unruhestiftende Abgeordnete konnten jetzt des Saales verwiesen werden. Prompt kam es am nächsten Tag zu einem Sturm auf die Tribüne, im einträchtigen Zusammenwirken von Alldeutschen und Sozialdemokraten. Tintenfässer flogen durch den Saal, ein Universitätsprofessor zückte sogar sein Taschenmesser. Mehr als ein Dutzend Abgeordnete wurden von der Wache aus dem Saal geschleift. Auf der Straße fanden Massendemonstrationen statt. Es gab Tote, als in Graz ein bosnisches Regiment in die Menge schoß. 

Kaiser Franz Joseph wurde die Sache zu heiß. Er entließ das Ministerium Badeni am 28. November 1897. Doch die Krise war damit nicht beendet. Solange die Verordnungen in Kraft blieben, betrieben die Deutschen weiterhin Obstruktion. Als sie 1899 dann endlich aufgehoben wurden, verbesserte sich zwar das Verhältnis der Deutschen zur Monarchie wiederum, dafür setzte prompt die tschechische Obstruktion ein. Für die Stellung der Donaumonarchie als Großmacht war diese Situation bedenklich; für die Bürger nicht unbedingt. Der Kaiser konnte per Notverordnung die „Staatsnotwendigkeiten“ fortschreiben, aber die Steuern nicht erhöhen und nicht mehr Rekruten ausheben als bisher, geschweige denn irgendwelche Reformen in Angriff nehmen. Das Toben der Radikalen kam so letztendlich den Konservativen zugute. Bis es dem Kaiser 1905/06 schließlich zu dumm wurde: Wenn das Kurienparlament mit seinem Zensuswahlrecht so schlecht funktionierte, sollte man dann nicht vielleicht doch den aufmüpfigen bürgerlichen Parteien die Rute ins Fenster stellen und das allgemeine Wahlrecht einführen? 

Die Strategie ging auf, mehr oder weniger. Die nationalen Blöcke verhärteten sich. Aber die Massenparteien wollten auf Zuwendungen aus dem Steuersäckel ungern verzichten. Sie gingen sparsamer um mit dem Instrument der Obstruktion. Die Obstruktion verschwand nicht gänzlich von der Bildfläche, aber sie wurde in das politische System integriert, wie der „Filibuster“ in den USA. Man begann von der „Trinkgeld-Obstruktion“ zu sprechen. Obstruktion war einfach das probate Mittel, der Regierung oder der Mehrheit Konzessionen abzutrotzen. 

Den Vogel schoß kurz vor 1914 der Thronfolger Franz Ferdinand ab. Er verabscheute die „Dienstpragmatik“, das neue Beamtenrecht, das von allen Parteien des Hauses gefordert wurde – bloß die Ukrainer brauchten auf Beamtenstimmen keine Rücksicht zu nehmen. Der Erzherzog schickte einen Emissär zu den „Tirolern des Ostens“: Sie möchten doch ein bißchen Obstruktion betreiben, damit die Vorlage zu Fall käme. Sobald er einmal Kaiser sei, werde er sich erkenntlich zeigen. Und so geschah es denn auch – bloß daß Franz Ferdinand dann bekanntlich doch nicht Kaiser wurde.






Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere Geschichte an der Universität Wien

Foto: Saalschlacht im Wiener Parlament aufgrund der Sprachenverordnung für Böhmen und Mähren 1897: Mit Mitteln der Obstruktion die parlamentarische Arbeit unmöglich machen