© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Oft allzu trübe Erinnerungen
Vitaly Basisty analysiert sowjetische Ego-Dokumente
Matthias Bäkermann

In der Sozialgeschichtsschreibung gewannen vor über fünfzig Jahren „Ego-Dokumente“ an Gewicht. Diese historischen Quellen persönlichen Charakters, also Tagebücher, Briefe, Reiseberichte etc., die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung eines Menschen ausdrücken, schließen mangels anderer Dokumente manchmal Lücken in der historischen Rekonstruktion. Das könnte zum Beispiel für die frühere Sowjetunion gelten, für die der kurze „Frühling der Transparenz“ in den 1990er Jahren besonders im Rußland unter Putin durch Schließung vieler Archive lange vorüber ist.

Trotzdem bedürften die subjektiven Quellen gerade aus der Stalin-Diktatur einer besonderen Quellenkritik, wie der ukrainische Historiker Vitali Basisty in seiner Analyse dieser Ego-Dokumente feststellt. Nicht wenige der Zeugnisse sind durch propagandistische, apologetische oder falsifizierende Einflüsse praktisch wertlos. Das gilt besonders für die zu Sowjetzeiten verbreiteten Kriegserinnerungen. So schwärmt beispielweise Alexander Rodin, Divisionskommandeur der 47. sowjetischen Panzerdivision, davon, wie vor seinen Stellungen 1941 in der Ukraine „eine Lawine feindlicher Panzer“ vernichtet wurde, aber die Unterlagen der an diesem Tage am gleichem Ort bei Winniza verbissen verteidigenden deutschen 100. Infanterie-Division Aufschluß darüber geben, daß diese nicht einen einzigen Panzer aufbieten konnte. 

Der Befehlshaber der 5. Garde-Panzerarmee, Generalleutnant Pawel Rotmistrow, schildert sehr detailliert, wie im Raum Kursk 1943 wohl etwa 350 Tiger und Panther der „Hitleristen“ nach einem tollkühnen Angriff von seinen T-34 in Nahdistanz vernichtet wurden. Tatsächlich lassen deutsche ebenso wie sowjetische Akten darauf schließen, daß Rotmistrows geschildeter Angriff „katastrophal ausging und ihn bis zu 75 Prozent der eingesetzten Fahrzeuge kostete“. Wie Basisty bemerkt, seien viele dieser „ans Absurde grenzenden Erinnerungen“ einer derartigen Kontrolle der sowjetischen Parteibürokraten unterzogen worden, „die selbst die Feldpostzensur im Krieg verblassen läßt“.

Ähnliches läßt sich sogar über Schilderungen von deutschen Verbrechen an sowjetischen Soldaten feststellen. So sei die vom ukrainischen Soldaten Grigorij Handeruk ausgemalte Hinrichtung sowjetischer Gefangener im schlesischen Sommerfeld vom Februar 1945 wohl eher unglaubwürdig, da der Veteran gar nicht an diesem Ort gekämpft hatte. Der Historiker Basisty, der Hunderte von Quellen mit ganz unterschiedlichem, teilweise tatsächlich dokumentarischem Wert analysiert hat, urteilt, daß sich ihm in dem konkreten Fall sogar „die Annahme aufdrängt, daß die Rotarmisten das miterlebte eigene Verhalten gegenüber deutschen Gefangenen übertrugen“.

Vitali Basisty: Stalinismus, deutsche Okkupation und Fronteinsatz. Die Zeit 1930–1945 in ukrainischen Ego-Dokumenten. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2022, broschiert, 236 Seiten, 64 Euro