© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Gegenwart galt nie als die beste aller Welten
Karl-Heinz Ott denunziert in seiner Geschichte des reaktionären Denkens jede antimoderne Zeitkritik als vernunftfeindlich
Eberhard Straub

Lange vor der sogenannten Neuzeit hieß es immer wieder: Alles Neue gefällt. In rascher Folge wechselten neue Zeiten, verändert von den jeweiligen „Modernen“ in Theologie, Philosophie, Dichtung, Kunst oder Lebensformen. Selbstverständlich wehrten sich die „Alten“. Doch sehr bald konnten die eben noch Modernen veralten und sahen sich in Frage gestellt, so wie sie früher Zeitgenossen, die am Bewährten festhielten, als auslaufende Modelle behandelt hatten. Die europäische Geschichte ist ein dauernder Streit zwischen den jeweils Alten und Modernen. Dieser Zwist war unvermeidlich, weil mit Christus, seit dem Neuen Bund und dem Neuen Testament, ein neues Leben und eine neue Welt begann, die wegen der Schwachheit der Menschen dauernd erneuert werden mußte. Die Gegenwart galt nie als die beste aller Welten. Erstaunlicherweise entsteht in der „westlichen Wertegemeinschaft“ gleich Unruhe, wenn einige oder mehrere Gruppen unverhohlen Zeitkritik üben, obschon doch „kritisches Bewußtsein“ den wahren Zeitgenossen auszeichnen soll.

In seinem Buch mit dem dramatischen Titel: „Verfluchte Neuzeit“ unterstellt der Schriftsteller Karl-Heinz Ott den von ihrer Gegenwart beunruhigten Antimodernen reaktionäres Denken, also die Absicht, für sie ganz heillose gesellschaftliche Zustände mit Rückgriffen auf Vorstellungen aus abgestorbenen und erledigten Vergangenheiten verbessern zu wollen. Solche Vorhaben wurden einst als Wiedergeburt, als Renaissance, Reformation oder Revolution gewürdigt, als geglückter Versuch, Verirrungen zu korrigieren und Unordnung mit der Sonne der Vernunft aufzuhellen und zu beseitigen. Für Karl-Heinz Ott kann es heute in diesem Sinne keine mögliche Abkehr von vielleicht schon sehr platt getretenen Trampelpfaden geben, die sich ineinander verschränken und gar keine Auswege aus ihrem sich selbst genügenden System eröffnen. Denn unsere allerneueste Neuzeit, die im „Westen“ zu ihrer Vollendung gelangte, hat mit Demokratie, Freiheit und Menschenrechten, mit Pluralismus, Fortschritt und Frohsinn in der „Spaßgesellschaft“ die höchste Stufe in der Menschheitsentwicklung erreicht, so daß jede Abweichung nur einen Rückfall bedeuten kann in schreckliche Vorzeiten mit ihren Gespenstern.

Wir haben die höchste Stufe in der Menschheitsentwicklung erreicht

Seit „dem Westen“ das große Feindbild abhanden gekommen sei, also seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Verschwinden des Kommunismus als geistige Weltmacht, rührten sich überall immer vorlauter Aktivisten und Ideologen, die der Vergangenheit verhaftet, von der überholten Nation und Souveränität, von der Fiktion der kulturellen Identität, von wertlos gewordenen traditionellen Werten und einer neuen geistig-sittlichen Orientierung redeten, die nur Verwirrung zu stiften vermöge. Ott nennt einige der finsteren Gestalten und Mächte: Pegida, die Besetzer des Kapitols am 6. Januar 2021, Donald Trump, Silvio Berlusconi und Viktor Orbán, die mit ihren Gesinnungsgenossen nach einer illiberalen Demokratie und Republik strebten. Sie verfluchen gemeinsam nicht nur die Gegenwart, sie rüttelten „an den Grundlagen der Neuzeit“. Das ist allerdings eine übertriebene Dramatisierung, geschuldet der Aufregungsbedürftigkeit unserer Zeitgenossen. Denn die eine, unteilbare Nation, der Staat, die Souveränität, sichere Grenzen, die Homogenisierung des Staatsvolkes und dessen politische Mitbestimmung, gehören zu den Forderungen der Neuzeit, die ohne diese neuen Kräfte gar nicht verstanden werden kann. Wer von ihnen spricht, bestätigt, zur Neuzeit zu gehören und von ihrer Mentalität geprägt zu sein.  

Es war der Adel, für Karl-Heinz Ott Reaktionäre, der zäh und beharrlich gegen die Nation und die Gleichheit der Lebensverhältnisse, gegen monarchische Souveränität und den Interventionsstaat im Namen der Freiheit verschiedener sozialer Gruppen und der Subsidiarität kämpfte. Mit den Königen und ihren Ministern verbanden sich die antifeudalen Bürger. Der demokratische Absolutismus der Revolutionäre bildet den Abschluß einer langen Entwicklung hin zum staatlichen Absolutismus überhaupt. Darüber hat Alexis de Tocqueville 1856 ein klassisches Werk verfaßt. Die Kritiker der damaligen Moderne und Neuzeit waren bei aller polemischen Distanz Zeitgenossen, die auf ihre Gegner reagierten und im polemischen Wettbewerb mit ihnen ihre politischen Vorstellungen präzisierten. Geschichte zu verstehen heißt, die Sachverhalte zu komplizieren statt sie zu vereinfachen. 

Insofern wirkt es auch sehr hilflos, wenn Karl-Heinz Ott von „Faschos“ oder „Nazis“ handelt und den Begriff „Nationalsozialist“ und den Namen der Partei geflissentlich vermeidet. Die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus – in mannigfachen Variationen in Europa versucht – weist auf zwei ganz moderne Bewegungsmächte hin. Mit dieser Verbindung sollte eine zeitgemäße Antwort auf konkrete Herausforderungen gefunden werden. Weder der Sozialismus noch der Nationalismus beruhten auf Hoffnungen und Ordnungsideen aus indessen vollständig widerlegten, fernen Epochen.  Ein reaktionäres Denken, das gar über Jahrhunderte mit gleichbleibender Intensität Freiheit, Vernunft, Philosophie und Fortschritt verunglimpfte, hat es nie gegeben. Reaktionäre machen sich erst nach der Französischen Revolution bemerkbar. Damals kommt dieser Name auf. Doch Reaktionäre, Aristokraten, die gegen den Absolutismus streiten, ob gegen monarchischen, demokratischen oder den des Soldatenkaisers und Führer von Massen wie Napoleon, beriefen sich auf die Freiheit, wie die Katholische Kirche, mit der sie meist verbündet waren, die ihre Freiheit im freien Staat gesichert wissen will. Es gibt viele Arten von Freiheit in der europäischen Geschichte. 

Die Freiheit der Liberalen ist nur eine unter vielen anderen. Der Liberalismus war schon vor dem Ersten Weltkrieg in die Krise geraten. Es spricht für die Modernität aufmerksamer Zeitgenossen wie Carl Schmitt, Leo Strauss, Martin Heidegger und Eric Voegelin, mit deren Gedanken sich locker vom Hocker Ott umgangssprachlich beschäftigt, wenn sie Wege suchten, um dem liberalen System, das an sein Ende gekommen war, zu entrinnen. Sie hatten mit dem Liberalismus nichts mehr im Sinn und fürchteten die Massendemokratie, die jedenfalls die Freiheit bedrohte, auf die sie als Akademiker und freie Geister angewiesen waren. Sie mochten sich mit manchen Erwartungen geirrt haben. Doch auch der irrende Geist ist immer noch Geist. Deshalb muß man weiterhin Leo Strauss und Carl Schmitt lesen, aber auch Thukydides und Tacitus und andere „Alten“, die wie eh und je dabei helfen können, vor dem Wechsel der Zeiten nicht mutlos zu verzagen. 

Es gibt viele Arten von Freiheit in der europäischen Geschichte

Es gab und gibt stets Alternativen. Die Alternativlosigkeit der „westlichen Wertegemeinschaft“, von der viele der zeitgemäßen Orientierungshelfer überzeugt sind, könnte wirklich kritische Zeitgenossen beunruhigen, weil vielleicht, wie schon öfter in der Geschichte, bestimmte Prinzipien unentwegt beschworen werden, um davon abzulenken, daß sie, mittlerweile zu reinen Schlagworten geworden, jede Substanz eingebüßt haben. Untergänge sind meist nicht laute Zusammenbrüche, sie entwickeln sich in gar nicht so übersichtliche Übergänge in andere Zeiten. Wer mit der unvermeidlichen Vergänglichkeit sämtlicher Phänomene in der Welt als Geschichte rechnet, ist auf sogenannte Überraschungen und Kulturbrüche vorbereitet. Auch das Schöne muß sterben, wie Schiller in einem herrlichen Klagegesang beteuert. Die westliche Wertegemeinschaft ist von dieser allgemeinen Bestimmung aller historischen Erscheinungen nicht ausgenommen. 

Karl-Heinz Ott: Verfluchte Neuzeit. Eine Geschichte des reaktionären Denkens. Hanser Verlag, München 2022, gebunden, 432 Seiten, 26 Euro

Foto: Wolfgang Mattheuer, „Kein Ende, irgendwann...?“, 1986: Ein dauernder Streit zwischen den jeweils Alten und Modernen