© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Keine schnelle Lösung in Sicht
Weiter Versorgungsengpässe bei wichtigen Arzneimitteln
Jörg Schierholz

Nachdem im März 2020 die Weltgesundheitsorganisation WHO den Pandemiefall für Corona ausrief, fehlten nicht nur Atemschutzmasken, es explodierten auch die Lieferengpaßmeldungen beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): Hunderte Medikamente waren wochenlang nicht lieferbar. Erst im Mai entspannte sich die Versorgungssituation wieder und die Zahl der BfArM-Mangelmitteilungen sanken wieder auf das vorausgegangene Durchschnittsniveau – sprich: wöchentlich werden etwa ein Dutzend Lieferengpässe von Arzneimitteln gemeldet.

Aktuell ist beispielsweise laut BfArM das Anti-Aknemittel Epiduo Forte bis Juli nicht lieferbar. Die im März gemeldeten Produktionsprobleme beim Asthma-Medikament Pulmelia können hingegen bis Oktober anhalten. Besonders dramatisch ist der monatelange Versorgungsengpaß beim Brustkrebsmedikament Tamoxifen. Der bewährte Arzneistoff ist eines der wichtigsten Medikamente bei der Therapie des Mammakarzinoms, doch er stand für die Mehrzahl der geschätzten 130.000 Patientinnen seit Anfang 2022 nicht mehr zur Verfügung. Viele Patientinnen mußten die Einnahme aussetzen, und die Konsequenzen sind medizinisch nicht abzuschätzen. Und dieser Engpaß wirft ein Schlaglicht auf die instabilen Strukturen bei der Herstellung von Generika.

Weltweite Verknappungen von Wirkstoffen oder deren Vorstufen

Das sind Medikamente, deren Patentschutz abgelaufen ist und die nun als Nachahmerprodukte zu einem Bruchteil des ursprünglichen Preises den Großteil unserer Arzneimittelversorgung ausmachen. Eine der Hauptursachen für Lieferengpässe ist die Globalisierung der Herstellung von Vor- und Endprodukten, welche gleichzeitig sukzessive zentralisiert wird. Das bedeutet, daß beispielsweise für 40 verschiedene Generika-Marken für einen Wirkstoff nur noch ein oder zwei Bezugsquellen weltweit existieren, was den Markt sehr anfällig für Lieferschwierigkeiten macht, falls nur ein Hersteller auch nur zeitweise ausfällt. In diesem Fall muß der andere Hersteller dessen Mengen zusätzlich bedienen und bekommt in der Folge ebenfalls Lieferprobleme. Bis sich der Markt wieder eingependelt hat, können Monate bis zu einem Jahr vergehen, da die Vorlaufzeiten in der Arzneimittelproduktion beträchtlich sind.

Bei weltweiten Verknappungen von Wirkstoffen oder deren Vorstufen sind alle Märkte betroffen, aber die Auswirkungen von Lieferengpässen in Ländern mit höheren Preisniveaus sind geringer. Der Generika-Markt ist inzwischen sehr volatil und für Arzneimittelhersteller immer schwerer planbar. So gab es im Juli 2018 einen EU-weiten Rückruf von Medikamenten, die den Wirkstoff Valsartan vom chinesischen Hersteller ZHP enthielten. Einige Chargen waren produktionsbedingt verunreinigt (JF 36/18). Daher kam es zu Umschichtungen auf das verwandte Candesartan sowie zu Erhöhungen der Bestände bei Großhändlern und Apotheken sowie längeren Vorlaufzeiten in der Produktion. Kam ein Generikahersteller mit Candesartan zu spät, lief dieser in das Risiko, die mit hohem Aufwand produzierte Ware später entsorgen zu müssen.

Nun kommen explodierende Energiekosten durch den Ukraine-Krieg und inflationäre Preissteigerungen bei Wirkstoffen und Verpackungsmaterialien hinzu: „Die drängendsten Probleme sind derzeit die extrem steigenden Kosten einerseits und die Deckelung der Preise durch die zahlreichen sozialrechtlichen Instrumente andererseits“, erklärte Hubertus Cranz, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Arzneimittel-Hersteller BAH, im Deutschen Ärzteblatt. Sprich: Die Arzneimittel-Festbeträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erschweren Preiserhöhungen, und das macht eine heimische Produktion aus betriebswirtschaftlicher Sicht unrentabel.

Standortwettbewerb bedroht den Pharmastandort Deutschland

Deshalb warnt die deutsche Pharmabranche vor einer weiter wachsenden Abhängigkeit von China und Indien. Eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) und des Healthcare Supply Chain Institut aus Heilbronn zeigt, wie abhängig inzwischen Europa und auch die USA von immer weniger asiatischen Wirkstoffherstellern sind. Über zwei Drittel der Produktionsorte von bestimmten generischen Wirkstoffen liegen im kostengünstigeren Asien. Noch würden die Wirkstoffe für innovative Biopharmazeutika vorrangig in Europa und Nordamerika produziert, aber China und Indien entwickelten sich längst auch bei neuartigen Arzneimitteln zu ernstzunehmenden Konkurrenten.

Die beiden Länder mit zusammen 2,8 Milliarden Einwohnern seien längst nicht mehr nur die „verlängerte Werkbank“ der westlichen Industrien, und der Preisdruck in den Gesundheitssystemen und der internationale Standortwettbewerb stellten den Pharmastandort Deutschland in Frage. Der GKV-Spitzenverband sei zur Sicherstellung einer hochwertigen und wirtschaftlichen Arzneimittelversorgung zur regelmäßigen Überprüfung des Festbetragsmarkts und zur Anpassung von Festbeträgen an eine veränderte Marktlage verpflichtet, mahnen die Pharma-Hersteller. Diese gesetzliche Vorgabe erfülle auch der Festbetrag für Tamoxifen – der seit 2010 unverändert sei. Der Festbetrag für eine 100er-Packung in der am häufigsten verordneten Wirkstärke 20 mg beträgt laut GKV-Spitzenverband 22,43 Euro. Das entspricht einem Festbetrag in Höhe von 8,82 Euro auf Ebene der Abgabepreise der pharmazeutischen Unternehmer; pro Tablette soviel wie für ein Bonbon bei Aldi oder Lidl.

Deutschland muß sich von den weltweiten Lieferketten unabhängiger machen. „Wir haben derzeit die Situation, daß in der Arzneimittelversorgung eine Abhängigkeit von der Zulieferung vieler Wirkstoffe besteht, die in Deutschland nicht mehr produziert werden“, erklärte Gesundheitsminister Karl Lauterbach kürzlich mit Blick auf die Corona-Krise und den Ukraine-Krieg. „Wir leben in einer Zeit, in der klar wird, daß wir in Teilen eine Entflechtung des Produktionsprozesses einleiten müssen“, so der SPD-Politiker. So ähnlich klang allerdings auch schon der ehemalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), der den Produktionsstandort Deutschland – vor 40 Jahren noch die Apotheke der Welt – wieder aufbauen lassen wollte. Passiert ist kaum etwas – und das bei einem Prozeß, der ohnehin viele Jahre dauern würde und für den in den letzten Jahren außer freundlichen Absichtsbekundungen nichts getan wurde.

IW-Studie „Resilienz pharmazeutischer Lieferketten“:

 www.iwkoeln.de

 bfarm.de

Foto. Brustkrebsmittel Tamoxifen: Frühestens ab September wieder lieferbar?