© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

Die Situation eskaliert
Abtreibungsurteil: Die USA treten in eine neue Phase des Kulturkampfs ein
Pedro L. Gonzalez

Die Worte auf der Fassade einer religiösen Abtreibungsberatungsstelle in Colorado waren eindeutig: „Wenn Abtreibungen nicht mehr sicher sind, seid ihr es auch nicht.“ Kurz nachdem der Oberste Gerichtshof der USA das Urteil „Roe v. Wade“ aufgehoben hatte, besprühten Randalierer das Gebäude und setzten es in Brand. Es ist ein Vorgeschmack auf das, was droht: Das Ministerium für Innere Sicherheit warnt die Amerikaner, daß sie in diesem Sommer aufgrund der Entscheidung mit mehr gewalttätigem Extremismus rechnen müßten.

Die Roe-Entscheidung des Gerichtshofs ist vor allem ein symbolischer Sieg für die Rechte in Amerika. Sie betrifft das, was im wesentlichen ein religiöser Ritus der Linken geworden ist: die Abtreibung. Das Urteil markiert den Beginn einer neuen Phase im Kulturkampf – ein Kampf um konkurrierende Wertesysteme und letztlich ein Kampf zwischen unterschiedlichen Visionen über die Zukunft des Landes. Was ist die richtige Art zu leben und was nicht? Dieser Moment hat sich schon lange angekündigt.

Im Jahr 1973 schuf der Supreme Court ein Recht auf Abtreibung auf der Grundlage der Verfahrensklausel des vierzehnten Verfassungszusatzes. Plötzlich gab das Recht einer Frau auf Selbstbestimmung ihr angeblich auch das Recht, ungeborenes Leben zu beenden. Zu diesem Zeitpunkt hatten jedoch bereits mehrere Staaten die Abtreibung legalisiert oder liberalisiert. Hierin lag das eigentliche Wesen des Föderalismus: Die Bundesstaaten agierten als Träger der Demokratie und schufen Gesetze im Einklang mit dem demokratischen Prozeß. Dennoch verankerte der Gerichtshof auf der Grundlage eines zweifelhaften Arguments ein neues, allgemeines Recht auf Abtreibung gesetzlich und zwang es dem ganzen Land jahrzehntelang von oben nach unten auf. 

Das Roe-Urteil war also, mit anderen Worten, der erneute Umsturz einer Entscheidung, die tatsächlich auf den Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung hinauslief. Doch trotz der apokalyptischen Rhetorik der Linken wird das Urteil natürlich nicht verhindern, daß Abtreibungen weiterhin stattfinden. 16 Bundesstaaten und auch Washington, D.C., haben bereits Gesetze, die den Zugang zur Abtreibung sicherstellen. Sieben Staaten haben überhaupt keine Fristenregelung, bis wann ein Schwangerschaftsabbruch möglich ist. Das Vermächtnis von Roe besteht also darin, daß die USA in einigen Staaten liberalere Abtreibungsgesetze haben und auch weiterhin haben werden als ihre westeuropäischen Partner, deren Politiker nun laut aufheulen.

Doch was bedeutet dies für die beiden Parteien? Für die Demokraten ist es ein Thema, mit dem sie ihre Basis vereinen können, die vor den Zwischenwahlen im November durch die extrem enttäuschende Amtszeit von Präsident Joe Biden demoralisiert wurde. Im vergangenen Monat erreichte die Inflation in den USA mit 8,6 Prozent ein 40-Jahreshoch. Nach Angaben des Finanzinstituts Prudential geben 46 Prozent der Amerikaner an, daß sie finanziell in Schwierigkeiten sind. Zum ersten Mal in der Geschichte kostete Benzin im Durchschnitt mehr als fünf Dollar pro Gallone (3,785 Liter). 

Die Demokraten müssen also darauf hoffen, daß sich die Amerikaner mehr für das Thema Abtreibung interessieren als für die steigende Inflation und die steigenden Kosten der Grundversorgung. Doch wenn das Urteil aus den Schlagzeilen verschwindet, wird der Schmerz, den die Amerikaner aufgrund der Wirtschaftslage empfinden, ganz sicher nicht verschwinden. Ob der Talisman der Abtreibung ausreichen wird, bleibt also ungewiß. Die Republikaner hingegen befinden sich in einer seltsamen Lage. Die Entscheidung des Gerichtshofs, „Roe vs. Wade“ zu kippen, war ein „schwarzer Schwan“ – etwas Ungeplantes und Unvorhergesehenes. Die „Grand Old Party“ könnte versuchen, die Lorbeeren für sich zu beanspruchen. Und das wird sie auch tun. 

Doch man bedenke: Nur einen Tag nachdem die konservativen Richter des Gerichtshofs die Abtreibung in die Zuständigkeit der Bundesstaaten zurückgeschickt hatten, unterstützte die Republikanische Partei den Präsidenten bei der Verabschiedung des umfassendsten Waffenkontrollpakets, das die USA seit Jahrzehnten gesehen haben, obwohl die Entscheidung bei der Parteibasis zutiefst unbeliebt war. Und während Supreme-Court-Richter Clarence Thomas angedeutet hat, daß die Abschaffung der gleichgeschlechtlichen Ehe als nächstes anstehen könnte, haben wichtige Republikaner wie der Senator von South Carolina, Lindsey Graham, bereits erklärt, ein Sieg sei genug – es bestehe keine Notwendigkeit für weitere Schritte.

Wenn man zwischen den Zeilen liest, wird deutlich, daß sich die Republikanische Partei in einer mißlichen Lage befindet. Zum einen will sie nicht wirklich sozialkonservativ sein. Gleichzeitig versucht sie jedoch, die Lorbeeren für die Siege der Sozialkonservativen zu ernten. Im allgemeinen will die Partei von diesen Menschen nichts weiter als ihr Geld und ihre Stimmen. Das wird jetzt, da ihre Basis zum ersten Mal seit Jahrzehnten Blut geleckt hat und Siege einfährt, schwieriger zu bewerkstelligen sein. 

Während die beiden Parteien versuchen, aus den aktuellen Ereignissen Kapital zu schlagen, haben die Proteste auf den Straßen bereits begonnen. Es sieht so aus, als stünde ein weiterer Sommer der Wut vor der Tür. Die Strafverfolgungsbehörden bereiten sich auf eine Welle der Gewalt vor. Seit Mai gab es in den USA etwa 40 Vorfälle von Vandalismus an Pro-Life-Zentren und Kirchen. Die Polizei nahm einen Mann fest, der ein Attentat auf den konservativen Richter Brett Kavanaugh geplant hatte.

Die politische Szene der Vereinigten Staaten ist im Grunde ein Pulverfaß. Beide Parteien sind nicht in der Lage oder nicht willens, die Situation zu deeskalieren, die gerade auf die gesamte Öffentlichkeit übergreift. Es ist fast so, als stünden wir in Spanien am Vorabend des Bürgerkriegs. Ähnlich wie damals die Nationalisten, die sich den von der Sowjetunion unterstützten Republikanern entgegenstellten, hat die Rechte in Amerika diesen Kampf nicht begonnen – sie hat lediglich auf die Übergriffe der Linken reagiert, die lange Zeit unangefochten blieben. 






Pedro L. Gonzalez ist Mitherausgeber des US-Kulturmagazins „Chronicles“.