© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

Der Minister mit der Glaskugel
Corona: Ohne die wissenschaftliche Auswertung der Maßnahmen abzuwarten, läßt Karl Lauterbach bereits neue Maßnahmen vorbereiten
Peter Möller

Dramatik kann Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). „Wir sind vor einem sehr schweren Herbst“, sagte er in der vergangenen Woche mit Blick auf die von ihm erwartete schwere neue Corona-Welle. Mit seiner dramatischen Vorhersage will der Minister den Boden für neue Corona-Maßnahmen bereiten und dafür sorgen, daß die verbliebenen Maßnahmen nicht ersatzlos auslaufen. Das Vorpreschen stößt allerdings auch unter Kabinettskollegen auf Kritik, schließlich lag bislang noch keine wissenschaftliche Auswertung der bisherigen Corona-Maßnahmen vor. Diese erschien erst am 30. Juni. Mit anderen Worten: Niemand wußte genau, welche Maßnahmen wie gewirkt haben. 

Lauterbach hat dennoch bereits verschiedene Szenarien für den Herbst durchspielen und Vorschläge für weitere Corona-Maßnahmen erarbeiten lassen. Demnach hält das Gesundheitsministerium laut Bild-Zeitung drei Szenarien für möglich: Im günstigsten Fall taucht eine neue, noch harmlosere Corona-Variante auf. In diesem Fall müssen, wenn überhaupt, nur noch die Risikogruppen geschützt werden. Andere Krankheiten wie die Grippe würden wieder einen breiteren Raum einnehmen. Allerdings geht das Gesundheitsministerium auch in diesem günstigsten Szenario von Belastungen für das Gesundheitswesen aus. „Vor allem im Bereich der Pädiatrie, aber auch durch Arbeitsausfälle in der berufstätigen Bevölkerung“, heißt es in dem Papier.

Ernster wird die Lage eingeschätzt, sollte Corona im Herbst genauso krank machen wie die aktuellen Varianten. Dann würden sich nach Ansicht der Experten viele Menschen infizieren und es zu Arbeitsausfällen kommen. Auch wenn in diesem Szenario nicht mit der Überlastung von Intensivstationen gerechnet wird, ist im Papier von „flächendeckenden Maßnahmen“ wie „Masken und Abstand in Innenräumen“ und Kontaktbeschränkungen auf lokaler Ebene die Rede, berichtet die Bild.

Kostenlose Bürgertests für alle soll es nicht mehr geben

Zudem gibt es noch ein deutlich dramatischeres Szenario: In diesem Fall verbreitet sich nach dem Sommer eine neue, besonders ansteckende und gefährliche Variante des Coronavirus. Auch dreifach Geimpfte könnten dann nach Einschätzung des Gesundheitsministeriums „bei Vorliegen von Risikofaktoren einen schweren Verlauf entwickeln“. Das würde bedeuten, daß Intensiv- und Normalstationen der Krankenhäuser in Deutschland „stark belastet“ werden. Um in diesem Fall eine Überlastung des Gesundheitssystems abzuwenden, könnten erneut eingeführte Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht und Abstandsgebote nach Einschätzung von Experten erst im Frühjahr 2023 zurückgefahren werden. Nach Auffassung des Gesundheitsministeriums ist das zweite Szenario – also die Fortschreibung der Lage der vergangenen Monate – am wahrscheinlichsten. Doch auch hier warnen Lauterbachs Experten: „Dabei wäre – ohne weitere Maßnahmen zu ergreifen – von ca. 1.500 Corona-Toten pro Woche auszugehen“, heißt es in dem Papier des Ministeriums.

Dementsprechend hat der Gesundheitsminister eine Strategie für den zu erwartenden Corona-Herbst ausarbeiten lassen, mit der das Infektionsgeschehen in Deutschland unter Kontrolle gehalten werden soll. Im Mittelpunkt des sieben Punkte umfassenden Plans, den die Gesundheitsminister von Bund und Ländern an diesem Freitag beraten wollen, stehen dabei unter anderem eine Anpassung der Impfkampagne, der Schutz von Jugendlichen und Risikogruppen sowie eine neue Teststrategie. Ziel sei es, mit einer neu ausgerichteten Impfkampagne die bestehende Impflücke zu schließen und vor allem bei den Risikogruppen für eine vierte Impfung zu werben.

Eine Änderung soll es bei den Tests geben: Die bislang kostenlosen Bürgertests für alle sollen wegfallen. Ab Ende Juni soll die Teststrategie sich auf bestimmte Personengruppen konzentrieren – Menschen mit Symptomen oder in Corona-Hotspots, Klinikpersonal und Krankenpflege, Kleinkinder oder Schwangere. Gleichzeitig setzt das Ministerium auf den verstärkten Einsatz von Medikamenten wie dem Pfizer-Präparat Paxlovid, um schweren Krankheitsverläufen künftig frühzeitiger entgegenzuwirken. Ein besonderes Augenmerk gilt den Plänen zufolge dem Schutz von Risikogruppen, insbesondere in Alten- und Pflegeheimen. Hier wird auf ein überarbeitetes umfassendes Versorgungs- und Hygienekonzept gesetzt, um den Alltag in den Einrichtungen trotz einer möglichen Herbstwelle aufrechtzuerhalten. Als unentbehrlich sieht das Ministerium hierbei das Impfen, Testen und das Tragen von Masken.

Um die Datenlage über die Entwicklung der Corona-Welle zu verbessern, sollen Krankenhäuser künftig gesetzlich verpflichtet werden, alle für das Pandemiegeschehen wichtigen Daten an das Deutsche Elektronische Melde- und Informationssystem für den Infektionsschutz (Demis) zu melden. Dadurch soll der Überblick über die aktuelle Intensivkapazität, die Zahl der Corona-Erkrankten sowie die verfügbaren Betten auf den Normal- und Intensivstationen verbessert werden. Eine weitere zentrale Aussage des Pandemie-Plans aus dem Lauterbach-Ministerium lautet: „Kitas und Schulen müssen offenbleiben“. Dazu sollen die Gesundheits- und Kultusminister von Bund und Ländern bundesweite Regeln festlegen. Bis spätestens zum 23. September soll das aktuelle Infektionsschutzgesetz, das an diesem Tag in seiner aktuellen Fassung ausläuft, an diese Herbststrategie angepaßt werden. Dabei sollen dann auch die Erkenntnisse des Corona-Expertenrats als auch die Auswertung der bisherigen Corona-Schutzmaßnahmen einfließen.