© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

Habeck dreht an der Uhr
Energiepolitik: Das Wirtschaftministerium hat die Alarmstufe des Notfallplans Gas ausgerufen
Marc Schmidt

Für Ludwig Erhard war Wirtschaft zur Hälfte Psychologie. Wer die Entscheidungen von Robert Habeck analysiert, dem stellen sich einige Fragen: Was bezweckt er mit der Ausrufung der Alarmstufe des Notfallplans Gas? Hat er die damit verbundenen psychologischen Effekte bedacht? Und warum ist dieser erkennbar überforderte grüne Minister trotz extrem schlechter volkswirtschaftlicher Entwicklungen, hoher Preissteigerungen und einem drohenden Horror-Winter mit Stromausfällen, kalten Heizungen und Unternehmensschließungen in allen Umfragen weiterhin so beliebt?

Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Gazprom ein zentrales Bauteil einer Gaspumpstation nach Kanada zur Überholung abgegeben. Doch wegen der westlichen Sanktionen blockiert die „woke“ kanadische Regierung die Rückgabe dieser Turbine an Rußland. Aber ist das wirklich die Ursache, warum 40 Prozent weniger russisches Gas nach Deutschland und Europa fließen? Zudem zeichnet sich die nächste Reduktion der Gasimporte ab, wenn die Ostseepipeline Nord Stream 1 ab dem 11. Juli routinemäßig zur Instandhaltung heruntergefahren wird. „In der Vergangenheit hat diese Wartungszeit ungefähr zehn Tage gedauert“, so Habeck. Aber vielleicht dauert es diesmal länger – der Gazprom-Konzern ist schließlich zu über der Hälfte in russischem Staatsbesitz.

Der hektische Alarmismus treibt die Erdgaspeise in neue Höhen

Als Lehre aus der ersten Ölkrise 1973/74 wurde eine gesetzliche strategische Rohölreserve eingerichtet, die Deutschland für mindestens drei Monate versorgen kann. Die verpflichtenden Gasspeicher sind laut EU-Vorschriften nur für außergewöhnlich kalte Winter oder kleinere Versorgungsunterbrechungen konzipiert. Bis1. November müssen sie laut EU-Kommission zu mindestens 80 Prozent ihrer Kapazitäten befüllt werden. Doch der Füllstand der Gasspeicher ist im Sommer traditionell niedrig, er liegt im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre. Wenn Habeck nun eine kurzfristige Änderung der Liefermenge wünscht, hätte er seine sanktionsfreudigen Verbündeten in Ottawa und Washington drängen sollen, ihren Gasexport nach Europa umzulenken. Doch der gefühlte Reservekanzler flog nur erfolglos in die Golfstaaten.

Seine Ausrufung der zweiten Stufe des Notfallplans Gas hat die Preisspirale weiter beschleunigt. Entsprechend nervös reagieren die Märkte und anderen europäischen Volkswirtschaften. Auch hier wäre es Habecks Aufgabe gewesen, die Märkte psychologisch zu beruhigen. Dann hätte er allerdings das energiepolitische Versagen der Grünen eingestehen müssen. Noch bei der Vorstellung seines „Osterpakets“ (JF 16/22) mit weltfremden Wind- und Solar-Ausbauplänen spielte Erdgas weiter eine Schlüsselrolle als Grundlastenergieträger für Reservekraftwerke. Eine Aussetzung der „CO2-Bepreisung“ durch das Brennstoffemissionshandelsgesetz, das nicht nur Benzin, Diesel und Heizöl, sondern auch Gas seit 2021 zusätzlich verteuert, wird bislang nicht einmal diskutiert. Wladimir Putin trägt also nicht allein die Schuld an dem Preishorror, der sich bei der nächsten Heizkostenabrechnung unausweichlich in wahrscheinlich vierstelligen Nachzahlungen äußert.

Die zweite Stufe des Gas-Notfallplans erklärt zwar Gas zu einem knappen Gut, reale Auswirkungen ergeben sich allerdings erst, wenn die dem Wirtschaftsministerium zugeordnete Bundesnetz­agentur eine zusätzliche Störung der Versorgung erklärt. Für eine solche Erklärung könnte nun der statistische Versorgungsrückgang durch die anstehende Pipelinewartung genutzt werden, auch wenn diese Unterbrechung keine Auswirkung auf die aktuelle Versorgung hat. Erklärt die Bundesnetzagentur in Habecks Sinn diesen Notfall, wären weitere Preissprünge am Weltmarkt für Gas zu erwarten. Dafür hat sich der Wirtschaftsminister schon gewappnet: Um eine reihenweise Insolvenz der gasversorgenden Stadtwerke zu verhindern, dürfen diese die Preise dann auch in laufenden Versorgungsverträgen drastisch erhöhen.

Die Bundesnetzagentur genehmigt dann die neuen Tarife, es gelten dann keine Preisgarantien oder Sonderkündigungsrechte mehr. Passend dazu warnt Habecks grüner Parteifreund Klaus Müller als Chef der Bundesnetzagentur bereits vor einer Verdoppelung oder Verdreifachung des Gaspreises für Verbraucher im Winter. Der Gasmarkt nimmt diese Entwicklung bereits vorweg und reagiert erneut mit steigenden Preisen und erhöhten Abschlagszahlungen für Haushalte und Industriekunden, welche dann ihre Produktpreise erhöhen müssen – was die Inflation antreibt. Ökonomen, Gasversorger und Industriegewerkschafter halten daher nichts von Habecks Alarmismus, der die Probleme nur verschärft.

Drohende Abwanderung der deutschen Industrieproduktion

Und sollte tatsächlich demnächst die dritte und höchste Stufe des Gas-Notfallplans ausgerufen werden, müßten die Gaslieferungen tatsächlich rationiert werden, wobei Privathaushalte und soziale Einrichtungen bevorzugt versorgt werden. Diese Stufe wird ausgerufen, wenn langfristige, schwerwiegende Lieferausfälle absehbar sind oder die Versorgung der geschützten Haushalte über 30 Tage nicht garantiert werden kann. Doch soweit ist es noch nicht. Dennoch wird zum verkürzten Duschen aufgerufen und offen darüber diskutiert, welche Unternehmen bei einer Rationierung kein Gas mehr erhalten würden und ihre Produktion unterbrechen müßten.

Lieferanten, Kunden, Mitarbeiter und Betriebsräte der betroffenen Firmen und Branchen sind entsetzt, denn all das drückt nicht nur den Börsenkurs nach unten, sondern es gefährdet Finanzierungen und Investitionen. Und Gewerkschaftlern ist klar, daß wegen Gas- und Strommangel geschlossene Produktionen in Deutschland nicht wieder angefahren, sondern beispielsweise in Länder verlegt werden, die eine sichere und billige Energieversorgung garantieren. Allerdings hätte diese Abwanderung der deutschen Industrie auch Vorteile – zumindest aus Sicht der Grünen und der Klimapaniker in den anderen Parteien. Der Grundlastbedarf würde deutlich sinken, und die deutsche CO2-Bilanz würde endlich den Klimaträumen entsprechen, da die „schmutzige“ Industrieproduktion nicht mehr in Deutschland stattfindet.

Alarmstufen des deutschen Notfallplans Gas: www.bundesnetzagentur.de