© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

Das Verkehrschaos wird schlimmer
Bahn AG: 60 Milliarden Euro Sanierungsstau / Tausende Problemkilometer Schiene
Paul Leonhard

In Japan werden Zugverspätungen in Sekunden erfaßt. Wartungen erfolgen nachts. Sieben Wochen nach den schweren Beben im Frühjahr 2011 waren alle Strecken wieder regulär befahrbar – außer im Fukushima-Sperrgebiet oder in der Tsunami-Überschwemmungszone. In der Schweiz gilt ein Zug als pünktlich, der am Zielbahnhof weniger als drei Minuten verspätet eintrifft. Im Mai schafften das 92,5 Prozent der Züge.

Bei der Deutschen Bahn (DB) heißt „pünktlich“, wenn der Zug höchstens fünf Minuten zu spät ankommt. Das schafften in diesem Jahr nur 62,4 Prozent der ICE- und IC-Züge – ausgefallene Verbindungen nicht mitgerechnet. Für den Regioverkehr gibt es keine Statistik. „Ich erwarte, daß wir in Zukunft wieder die Uhr nach der Bahn stellen können und bin sehr zuversichtlich, daß wir das gemeinsam mit der Branche auch schaffen“, verspricht Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) im Strategiepapier „Eckpunkte zur Zukunft der DB und der Schiene“, das sein Ressort erarbeitet hat und das sich wie ein Offenbarungseid liest.

Die Ziele klingen angesichts maroder Eisenbahnbrücken, abgebauter Schienenstränge, fehlender Elektrifizierung und der Personallücken nach Wunschträumen: eine Verdoppelung der Verkehrsleistung im Personen- und eine Steigerung des Marktanteils im deutschen Güterverkehr auf 25 Prozent bis 2030. Die Bahngewerkschaft EVG schätzt den Sanierungsstau auf mehr als 60 Milliarden Euro. Ihre Mittel konzentriert die DB – 338.00 Mitarbeiter; Umsatz 39,9 Milliarden Euro – auf wenige Rennstrecken zwischen westdeutschen Metropolen.

Angesichts der Autobahnstaus, der Streichung Tausender Flugverbindungen und wegen des Neun-Euro-Tickets testen viele die DB. Was die Fahrgäste erleben, ist oft katastrophal: Bordlautsprecher verkünden regelmäßig verspätete Ankünfte und nicht geschaffte Anschlüsse, aber das ist immer noch besser als jeder Zugausfall oder eine polizeiliche Räumung bei Überbelegung. „Aktuell trifft eine sehr hohe Nachfrage auf ein Streckennetz, das nicht mitgewachsen ist und dessen Substanz sich über die letzten Jahrzehnte verschlechtert hat“, heißt es in erstaunlicher Klarheit im Eckpunktepapier: „Viele Gleise, Weichen, Brücken und Stellwerke sind schlicht überaltert und deshalb stark störanfällig.“

Die Betriebslage zeige, daß „gleichzeitiges Wachsen und Modernisieren“ die Betriebsqualität und Pünktlichkeit erheblich beeinträchtige. Geht es so weiter, werden Engpässe im DB-Netz bis 2030 auf 9.000 Kilometer anwachsen. Da Wissing neu im Amt ist, kann er die Versäumnisse seinen 19 Vorgängern von Union und SPD in die Schuhe schieben: „Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß politische Versäumnisse und Unterfinanzierung die Schiene an ihre absoluten Grenzen gebracht haben.“ 80 Prozent der Störungen gingen auf Mängel am Schienennetz zurück: „Uns bleibt keine Wahl: Wir müssen generalsanieren.“

„Uns bleibt keine Wahl: Wir müssen generalsanieren.

Gemeint ist damit bei weitem nicht das gesamte Schienen- und Brückennetz, sondern lediglich die hochfrequentierten Korridore und auch das nur „auf lange Sicht“. Gemeint sind jene rund 3.500 Streckenkilometer, auf denen die Durchschnittsauslastung bereits ohne Bautätigkeit bei 125 Prozent liege. Wissing will bauen und sanieren, ohne Einbußen bei Qualität und Zuverlässigkeit für Fahrgäste und Industrie zu erleiden. Durch präventive Instandhaltung soll die Anzahl der Störungen gesenkt werden – woher Material und Fachkräfte kommen sollen, wird nicht verraten. Nichtelektrifizierte Nebenstrecken sollen als Ausweichstrecken genutzt werden – mit Dieselloks, um die „logistische Versorgung wichtiger Schlüsselindustrien“ zu stabilisieren. Siemens soll dafür 150 Hybridloks liefern.

Die maroden DB-Strecken sollen nicht primär nach jeweiligem Zustand und Alter von Schwellen und Schotter, Gleisen und Weichen oder Signalen und Stellwerken, sondern dem Prinzip „mehr als 1:1-Ersatz“ generalsaniert werden. Das könnte teurer werden, aber so muß eine Strecke nur einmal gesperrt werden und bleibt dann für viele Jahre – so die Hoffnung – baufrei. Die verbauten Komponenten sollen erhöhte Standards in bezug auf Lebensdauer, Robustheit und Zuverlässigkeit aufweisen. Diese neuen Hochleistungskorridore (um Hamburg, Köln, Frankfurt, Karlsruhe, Stuttgart und München) sollten damit mehr Züge aufnehmen, ohne daß es negative Auswirkungen auf die Pünktlichkeit gibt.

Doch selbst wenn Wissings Ideen Wirklichkeit würden, gibt es noch ein Problem, das bislang unterschätzt wird: die Energieversorgung. Denn am 23. März war es zu einer Unterversorgung des Stromnetzes gekommen, in dessen Ergebnis der Schienengüterverkehr in weiten Teilen Deutschlands für mehrere Stunden zum Stillstand kam. Die Fahrdienstleiter der DB Netz AG hatten die Anweisung erhalten, Güterzüge auf dem nächsten Abstellgleis festzuhalten. Die knappe Energie wurde dem Personenverkehr zugewiesen. Doch der Güterverkehr dürfe nicht benachteiligt werden, warnte Peter Westenberger, Geschäftsführer des Netzwerkes Europäischer Eisenbahnen (NEE), einer Interessenvereinigung der Güterbahnen: Probleme mit der Verfügbarkeit des Schienennetzes zerstörten die „mühsam geplanten Umläufe der Züge und Personalplanungen, teils mit wochenlangen Folgewirkungen“. Das dürfe sich nicht auf die Stromversorgung ausweiten, sonst wichen mühsam für die Bahn gewonnene Firmen wieder auf Lkws aus, warnte Westenberger.

Starten will der Verkehrsminister seine „großflächige Modernisierung“ des Netzes erst 2024. Laut Handelsblatt sollen zuerst die Riedbahn von Mannheim nach Frankfurt und weiter bis ins Kinzigtal sowie die Verbindung von Köln nach Dortmund generalüberholt und ausgebaut werden. Beide Strecken gelten als überlastet; die Riedbahn teilen sich derzeit ICEs und langsamere Regional- und Güterzüge. In Frankreich (TGV) oder Japan (Shinkansen) haben Hochgeschwindigkeitszüge seit ihrem Start ein eigenes Streckennetz. Ein Problem der DB wird allerdings wirklich zeitnah erledigt: Das Oberlandesgericht Frankfurt urteilte, die bisherige Auswahl „Herr“ oder „Frau“ beim Ticketkauf sei diskriminierend. Die Bahn muß daher ab Januar eine „geschlechtsneutrale Ansprache“ gewährleisten.

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