© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

Immer Ärger mit der Bahn
Königsberg: Durch EU-Beschränkungen im Schienenverkehr werden im russischen Kaliningrad Baustoffe und Autoteile knapp
Marc Zoellner

Die Waggons des Zugs, der am Bahnhof der kleinen Stadt Kybartai hielt, waren schonmal voller besetzt: An jenem Morgen zählte der anwesende Reporter der New York Times gerade einmal 191 Passagiere, die es sich in den Abteilen bequem gemacht hatten. Noch im Sommer vergangenen Jahres drängelten sich hier im Schnitt mehr als 700 Reisende auf ihrer langen Fahrt zwischen der Exklave von Kaliningrad und dem russischen Kernland zwei Landesgrenzen weiter. Den litauischen Zöllnern, die in der Grenzstadt Kybartai ihren Dienst verrichten, blieb wenig an Arbeit. Vor der Weiterfahrt des Zugs nach Vilnius und später in Richtung der weißrussischen Hauptstadt Minsk wurden noch einmal die Ladelisten auf sanktionierte Güter kontrolliert. Anschließend versiegelten die Beamten die Waggontüren, um ein illegales Aussteigen der Passagiere auf EU-Gebiet zu verhindern. Erst an der weißrussischen Grenze dürfen diese Siegel wieder gelöst werden.

Kaliningrad sollte eigentlich ein „Hongkong an der Ostsee“ werden

Kaum eine russische Oblast wurde von den jüngsten Sanktionen der Europäischen Union infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine härter getroffen als die Hafenstadt an der Ostsee. Rund 940.000 russische Staatsbürger leben in dieser Exklave auf einer Fläche von der Größenordnung Schleswig-Holsteins. Zur Sowjetzeit galt Kaliningrad aufgrund seines eisfreien Meereszugangs als militärisches Sperrgebiet. Seit Januar 2018 halten die Streitkräfte Rußlands in der Exklave eine größere Anzahl „Iskander“-Raketensysteme stationiert, deren Gefechtsköpfe auch zu atomaren Erstschlägen in einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern dienen können. Noch im Mai, drei Monate nach Kriegsbeginn, vermeldete der Kreml offiziell die Simulation eines Überraschungsangriffs russischer Soldaten mit aus Kaliningrad abgeschossenen Iskander-Raketen. „Im ersten Monat nach der Invasion auf die Ukraine hab ich nicht gut schlafen können“, erinnert sich Peter Nielsen, Oberst einer in Litauen stationierten dänischen Nato-Einheit. Doch mittlerweile habe Rußland etwa die Hälfte seiner in Kaliningrad stationierten Truppen samt Gerätschaft zum Einsatz in der Ukraine abziehen müssen. Die verbleibenden aktiven Möglichkeiten der russischen Armee seien „stark begrenzt“, so der Oberst. Allenfalls dienen sie noch zur Stärkung des russischen Verhandlungsspielraums den Sanktionen der EU gegenüber.

Für Igor Pleschkow sind die Sanktionen eine Katastrophe. „Im Juni haben wir nicht einen einzigen Kubikmeter produzieren können“, berichtet der russische Unternehmer, der sich nahe Kaliningrad eine Fabrik für Beton und Pflastersteine aufgebaut hatte. „Dabei treffen diese Sanktionen nicht nur unser Geschäft, sondern jeden. Wir stellen nichts her, deswegen können die Bauunternehmer nichts bauen. Es ist eine Kettenreaktion. Wir können keine Lieferanten mehr bezahlen, keine Steuern, keine Löhne.“ Auch der russische Autobauer „Avtotor“, der im Joint Venture mit BMW und General Motors sowie chinesischen Firmen vor dem Krieg jährlich bis zu einer Viertelmillion Fahrzeuge pro Jahr auslieferte, fürchtet um die Zukunft seiner gut 2.000 Mitarbeiter. Auf der am 15. März veröffentlichten Sanktionsliste des Rats der Europäischen Union finden sich – neben Luxusgütern und Baumaterialien – immerhin auch unzählige Automobilbestandteile. Aufgrund ihres „doppelten Verwendungszwecks“, so der EU-Rat, könnten diese auch in militärische Fahrzeuge verbaut werden.

Noch in den 1990er Jahren träumten viele russische Unternehmer und Politiker mit Blick auf Kaliningrad von einem „Hongkong an der Ostsee“. Von der geplanten Sonderwirtschaftszone „Yantar“, zu deutsch „Bernstein“, blieb in der Folge kaum mehr als eine Handvoll Steuererlässe für größere Firmen. Das Wohlstandsgefälle zu den Nachbarstaaten Polen und Litauen ist gravierend. Statt massenhaft hochwertige Güter in die EU zu exportieren ist Kaliningrad auf Einfuhren in beinahe sämtlichen Wirtschaftszweigen angewiesen: Zuletzt im Januar dieses Jahres exportierte die Oblast Kaliningrad Waren im Wert von rund 220 Millionen US-Dollar; die Summe aller Importe betrug im gleichen Monat hingegen über 650 Millionen US-Dollar. Dieses gewaltige Außenhandelsdefizit zieht sich wie ein roter Faden durch Kaliningrads jüngste Geschichte und macht die Oblast besonders anfällig für Handelssanktionen. Überdies beliefern neben einer Vielzahl an Lkw auch rund 100 russische Güterzüge die Exklave – jeden Monat.

Moskau will das Einfuhrverbot über den Seeweg umgehen

Seit dem Ablauf der Übergangsfrist am 17. Juni dürfen russische Zulieferer keine sanktionierten Waren mehr über Gebiete von EU-Mitgliedern nach Kaliningrad transportieren. Laut Schätzungen Anton Alichanows, des Gouverneurs der russischen Exklave, seien hiervon bis zu 50 Prozent sämtlicher Kaliningrader Importe betroffen. Der EU wirft Moskau eine „Blockade“ wie jener Leningrads im Zweiten Weltkrieg vor. „Rußland wird auf diese feindlichen Handlungen ganz sicher antworten“, drohte der Sekretär des Russischen Sicherheitsrats, Nikolai Patruschew, jüngst im Staatsfernsehen. „Die Folgen werden schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Bevölkerung Litauens haben.“ Der bezichtigte baltische Staat wehrt sich indessen gegen die Vorwürfe einer Blockade: „Der Transit von Passagieren und nicht von der EU sanktionierten Gütern in die Region Kaliningrad durch das Hoheitsgebiet Litauens wird ununterbrochen fortgesetzt“, erklärte das litauische Außenministerium. „Litauen hat dem Transit keine einseitigen, individuellen oder zusätzlichen Beschränkungen auferlegt und handelt vollständig in Übereinstimmung mit dem EU-Recht.“

Tatsächlich erinnert die derzeitige Abschottung Kaliningrads anstelle des Schicksals Leningrads an einen noch älteren Teil der damals noch deutschen Geschichte dieser Stadt: Im Jahr 1255 vom Deutschen Orden gegründet, entwickelt sich die auf „Königsberg“ getaufte Ansiedlung in den folgenden Jahrhunderten zu einem der kulturellen und Handelszentren der Ostsee. Aus Königsberg stammten unter anderem der Philosoph Immanuel Kant und der Dichter E. T. A. Hoffmann. Mit der Neugründung Polens nach dem Ersten Weltkrieg wurde Ostpreußen samt Königsberg vom Rest des Deutschen Reichs abgetrennt und war – ebenso wie heute – nur durch einen Korridor erreichbar. In dieser Zeit entstand mit dem Flughafen Devau in Königsberg nicht nur der erste reine Verkehrsflughafen der Welt. Der „Seedienst Ostpreußen“ des Reichsverkehrsministeriums belieferte bis zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auch regelmäßig die ostpreußische Exklave. An dieses Erfolgsmodell hofft der Kaliningrader Gouverneur anzuknüpfen: „Güter, die nicht unter die Sanktionen fallen, werden umgeleitet“, erklärte Alichanow auf seinem Telegram-Kanal. „Derzeit werden sie oft über Fähren aus Sankt Petersburg importiert. Wenn wir diese auf die Schiene verlegen, können wir die Fähren für die sogenannten Sanktionsgüter freiräumen.“ Eine Blockade des Seewegs besteht nicht. Um seine Kapazitäten zu erweitern, versprach Rußland seiner Oblast, die derzeitige Flotte von drei Fähren bis Jahresende um sieben weitere Schiffe zu vergrößern.

Foto: Blick auf den Königsberger Seehafen mit Kränen und Speichern einige Tage nach Durchsetzung von EU-Sanktionen gegen Rußland im Juni 2022: Mit einem Mal muß die russische Exklave an der Ostsee auf Güter wie Autoteile oder Baumaterialien verzichten