© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

An der Seite der Verschmähten
Frankreich: Während das alte Parteiensystem zerbröselt, vertiefen sich die Klassengegensätze
Alain de Benoist

Im Hause Le Pen hat sich einiges verändert: Während Jean-Marie Le Pen und der Front National bei den Präsidentschaftswahlen 1995 noch 15 Prozent der Stimmen gewonnen hatten, erreichte seine Tochter Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen 2022 in der zweiten Runde fast 42 Prozent. Dieses Ergebnis reicht zwar noch nicht aus, um die Wahl zu gewinnen, ist aber hoch genug, um den außergewöhnlichen Aufschwung ihrer politischen Familie zu belegen.

Bereits im ersten Wahlgang lag sie in 30 Departements und 22.000 Gemeinden an der Spitze, verbesserte ihr Endergebnis im Vergleich zu 2017 um 2,7 Millionen Stimmen, stieg von sechs Millionen Stimmen im Jahr 2012 auf 13 Millionen Stimmen im Jahr 2022 – und schaffte es sogar, die Sozialistin Anne Hidalgo in Paris zu schlagen.

Einen Monat später, bei den Parlamentswahlen, gab es ein weiteres politisches Erdbeben und einen neuen historischen Erfolg. Marine Le Pen, die in ihrem Wahlkreis Hénin-Beaumont mit über 60 Prozent der Stimmen glänzend wiedergewählt wurde, schaffte es, 89 Abgeordnete in die Nationalversammlung zu bringen – so viele wie nie zuvor. Das bedeutet, daß der Rassemblement National (RN) nicht mehr nur in seinen historischen Hochburgen (Nordfrankreich und Südostfrankreich) vertreten ist, sondern auch in Regionen Fuß gefaßt hat, die ihm früher verschlossen waren, wie die Mitte und der Südwesten. In mehreren Departements wie Haute-Marne, Haute-Saône oder Pyrénées-Orientales konnten die RN-Kandidaten sogar alle Wahlkreise gewinnen, mit Ergebnissen von teilweise über 60 Prozent.

Diese Zahlen lassen um so weniger Zweifel am außerordentlichen Erfolg aufkommen, als alle anderen politischen Gruppierungen in unterschiedlichem Maße erhebliche Stimmenverluste verzeichneten. Emmanuel Macron selbst hat seine absolute Mehrheit verloren. Ihm fehlen 44 Abgeordnete. Marine Le Pen wird mittlerweile in allen Umfragen als stärkste Oppositionskraft anerkannt, da ihr Hauptkonkurrent, La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) von Jean-Luc Mélenchon, nur 72 Abgeordnete erhalten hat. Der Rassemblement National ist nun in der Lage, eine Fraktion zu bilden, Gesetzesentwürfe und Mißtrauensanträge einzubringen. Die politische Dynamik ist eindeutig auf ihrer Seite. Die Frage, die sich stellt, ist, wie Marine Le Pen in diese Lage gekommen ist.

Die Ursachen sind offensichtlich vielfältig. Zum einen liegen sie in der von ihr geführten Kampagne, den strategischen Fehlern ihrer Konkurrenten, aber auch in der raschen Veränderung der politischen Landschaft Frankreichs, die sich heute durch zwei Hauptmerkmale auszeichnet. Das erste ist der Zusammenbruch der früheren großen Parteien, die oft als „Regierungsparteien“ bezeichnet wurden. In den meisten europäischen Ländern, aber ganz besonders in Frankreich, wurde der Spielraum dieser traditionellen Parteien, die jahrzehntelang abwechselnd regiert hatten, immer kleiner. Das geht auf verschiedene politische und soziologische Gründe zurück, von denen etwa der Aufstieg des Populismus einer war.

In Frankreich hat sich dieser Trend dramatisch beschleunigt. Die Präsidentschaftswahlen 2017 markierten den Zusammenbruch der Sozialistischen Partei, die Präsidentschaftswahlen 2022 den der Republikaner. Nun sind diese Parteien, die vor unseren Augen verschwinden, auch diejenigen, die die Hauptvektoren der Rechts-Links-Spaltung darstellten. Sowohl 2017 als auch 2022 hatten die beiden Finalisten Le Pen und Macron gemeinsam, daß sie sich eben nicht in bezug auf diese Rechts-Links-Spaltung verorteten. Das ist kein Zufall – aber es ist ein Novum in der Geschichte der Fünften Republik.

Das zweite Merkmal, das mit einer unbestreitbaren Radikalisierung einer großen Mehrheit des französischen Volkes einhergeht, besteht in einer fundamental neuen Polarisierung der Kräfte, die sich gegenüberstehen. In der ersten Runde der letzten Präsidentschaftswahlen überschritten drei Kandidaten die 20-Prozent-Marke. Die anderen lagen zwischen 7 Prozent und 0 Prozent. Zwischen 7 Prozent und 20 Prozent: gar nichts! Auch das ist bedeutsam. 

Der zweite Wahlgang hat die Existenz zweier nunmehr klar identifizierbarer Blöcke bestätigt: einen national orientierten Volksblock um Marine Le Pen, der den Großteil der Arbeiterklasse und einen Teil der Mittelschicht umfaßt, die sich heute auf dem Weg der Deklassierung, wenn nicht gar des Verschwindens befindet. Und einen elitären oder bürgerlichen Block um Macron, den es seit der Juli-Monarchie nicht mehr gegeben hat. 

Emmanuel Macron wurde von den Reichen und Alten gewählt, oder wenn man so will, von den Rechts- und Linksliberalen, der Geschäftsbourgeoisie, der intellektuellen Bourgeoisie, der Managerklasse, der Oberschicht aus der Provinz und den wohlhabenden Rentnern. Wie der Politologe Jérôme Sainte-Marie treffend dargelegt hat, ist die Einrichtung und Konsolidierung dieser beiden Blöcke heute die wichtigste Größe im politischen Leben Frankreichs.

Marine Le Pen war klug genug, eine Kampagne auf leisen Sohlen zu führen. Anstatt große öffentliche Versammlungen zu organisieren, bei denen immer nur die gleichen Überzeugten zusammenkommen, hat sie geduldig das Terrain des „peripheren Frankreichs“ umgepflügt, das heißt sie hat den Großteil ihrer Zeit damit verbracht, auf der Straße und auf Märkten diejenigen zu treffen, die sich von den großen globalisierten Metropolen verschmäht fühlen, kein Vertrauen mehr in die Medien haben und die vom Volk abgeschnittenen Eliten verachten, unabhängig davon, ob sie rechts oder links angesiedelt sind.

Sie legte den Schwerpunkt nicht nur auf die Einwanderung, sondern auch auf eine soziale Dramatik, die von sinkender Kaufkraft und Unsicherheit geprägt ist. Durch die Inflation und die steigenden Treibstoffpreise wird diese Situation zwangsläufig noch verschärft. So wurde die 53jährige zur Kandidatin nicht nur der Arbeiter (der RN ist schon jetzt die größte Arbeiterpartei), sondern der unglücklichen Menschen, die unter einer dreifachen, weil sozialen, kulturellen und politischen Verunsicherung leiden.

Zudem hat Le Pen keinen der Fehler begangen, die dazu führten, daß Eric Zemmour, dem zu Beginn seiner Kampagne noch einiges zugetraut wurde, schließlich auf sieben Prozent bei den Präsidentschaftswahlen und vier Prozent bei den Parlamentswahlen abstürzte. Zemmour selbst war in dem Wahlkreis im Departement Var, in dem er glaubte, gewählt werden zu können, bereits im ersten Wahlgang ausgeschieden.

Zwar hatte die Kampagne des 63jährigen dazu beigetragen, bestimmte Themen im Zusammenhang mit der Einwanderungsfrage, die bis dahin ausgeklammert oder heruntergespielt worden waren, in die öffentliche Debatte einzubringen – allerdings mit einer Tonalität, die als angstbesetzt oder sogar brutal erscheinen konnte. Zudem hat er zwei schwere strategische Fehler begangen.

Der erste war, daß er an der Idee der Union der Rechten festhielt, einem alten Traum, von dem man seit mehr als einem halben Jahrhundert hört, der aber aus dem einfachen Grund nie verwirklicht werden konnte: Rechte berufen sich auf Ideen, Werte und Weltanschauungen, die nicht nur unterschiedlich, sondern oft sogar gegensätzlich sind. Dies gilt insbesondere für die konservative Rechte, für die der Mensch in Traditionen steht, und die liberale Rechte, für die der Mensch ein Wesen ist, das ständig sein bestes persönliches Interesse maximieren muß und seine Entscheidungen ohne Rücksicht auf seine Zugehörigkeit oder sein Erbe treffen sollte. Gemeint ist das Ideal des „Selfmademan“. 

Den Konservativen geht es um das Gemeinwohl, den Liberalen nur um die individuellen Freiheiten und Menschenrechte. Inhaltlich sind die Rechten untereinander unvereinbar, weshalb die sympathische Idee der „Union der Rechten“ kaum Chancen hat, verwirklicht zu werden – vor allem in einer Zeit, in der die Rechts-Links-Spaltung im Verschwinden begriffen ist!

Der zweite Fehler Zemmours bestand darin, den Klassenkampf zu ignorieren, gerade jetzt, wo er in vollem Gange ist. Diese Feststellung zu machen, bedeutet keineswegs, Karl Marx recht zu geben, von dem nur Ignoranten glauben, er sei der Erfinder des Begriffs der sozialen Klasse gewesen. Wie selten zuvor in den letzten hundert Jahren haben die politischen Gegensätze in Frankreich die extreme Form eines Klassengegensatzes angenommen: Volksblock gegen Eliteblock, räuberische Bourgeoisie gegen in prekären Verhältnissen lebende Volksschichten. Noch nie waren sozioökonomische Parameter so wichtig, um Wähler zu gewinnen. Und noch nie hat die Arbeiterklasse, die sich um Marine Le Pen gruppiert, so sehr unter der Klassenverachtung gelitten, die sie erfährt.

In unmittelbarer Zukunft ist Frankreich auf dem besten Weg, unregierbar zu werden. Die Linkskoalition (Nupes), die um Mélenchon herum aufgebaut wurde, wird bei der ersten Gelegenheit zerfallen, da sie nur ein Zweckbündnis aus mehreren Parteien ist. Der Staatschef hat den Großteil seiner Legitimität verloren. Es wird nun erwartet, daß er vielleicht in einem Jahr die Auflösung der Nationalversammlung beschließt, was zu Neuwahlen führen würde. Es ist jedoch nicht einmal sicher, ob er davon profitieren würde.






Alain de Benoist, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschriften „Nouvelle École“ und „Krisis“.

Foto: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron trifft die Vorsitzende des Rassemblement National (RN) Marine Le Pen im Elysee-Palast (21. Juni 2022): Volksblock gegen Eliteblock