© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

Keine russische Kultur jenseits von McDonald’s
Nation ohne utopisches Projekt

Da der Kultur- und Medientheoretiker Boris Gloy (New York City University) sich nicht mit Ökonomie und Geopolitik beschäftigt, steht er bei der Deutung des russisch-ukrainischen Krieges vor einem Rätsel: „Warum das alles passiert, versteht kein Mensch.“ In einem langen Gespräch mit der russischen Kunsthistorikern Liza Lazerson, geführt auf deren Podcast, rafft sich Gloy dann schließlich doch zu einer so vagen wie derzeit beliebten kulturphilosophischen Interpretation Moskauer Politik auf. Bei dem, was sich in der Ukraine abspiele, gehe es dem Aggressor Putin um den Schutz „national-kultureller Identität“. Das Vorbild dafür seien der Iran und islamische Bewegungen weltweit, „die bestrebt sind, alles Westliche in der Hoffnung zu beseitigen, daß ihre wahre kulturelle Identität in ihrem natürlichen Licht erstrahlt“. Ähnliche Prozesse vollzögen sich heute in Indien und China. Doch dort, wo man sich von „‚westlichen Scheußlichkeiten‘‘‘ wie McDonald’s, Facebook, Rockmusik, reinigen wolle, gebe es tatsächlich ein Substrat nichteuropäischer Kultur. Aber nicht im kapitalistischen Rußland, wo jenseits der übernommenen westlichen Kultur keine „Russische Welt“ mehr existiere. Und „traditionelle Werte“, die Putin verteidigen wolle, verteidige auch jede konservative Partei im Westen, die gegen Abtreibung und Homosexualität agitiere. Spezifisch russisch sei daran nichts. Darum entwickle die russische Kunst, anders in der Sowjetunion bis 1941, auch keine gestalterische Energie für ein eigenes utopisches Projekt. Sie reproduziere nur noch „kleinbürgerliche Idylle“ im Provinziellen (Lettre International, 137/2022).

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