© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

Grenzen zwischen Denkräumen
Documenta: Die Kunst-schau im Widerstreit zwischen Israelkritik und Antisemitismus
Regina Bärthel

Es ist ein Tsunami der Empörung, der seit dem 18. Juni, dem Eröffnungstag der documenta 15 durch die Medien rollt: Antisemitische Bildsprache auf einer der wichtigsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst weltweit! Man hätte vorgewarnt, zumindest sensibilisiert sein können, hatte doch bereits im Januar das Kasseler „Bündnis gegen Antisemitismus“ darauf hingewiesen, daß teilnehmende Künstler der BDS-Bewegung („Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen“) nahestünden, die an der Auflösung des Staates Israel arbeitet. Doch der Hinweis wurde von vielen Stimmen aus Kultur und Politik abgetan; Kritik am Staat Israel müsse erlaubt sein, habe auch nichts mit Antisemitismus zu tun und ohnehin gelte Kunst- und Meinungsfreiheit. Statt dessen diffamierte man das „Bündnis gegen Antisemitismus“ als obskure, anonyme Blogger, die einer fremdenfeindlichen, also rassistischen Agenda folgten. Rassismus sticht Antisemitismus.

Als dann am Eröffnungstag die inzwischen bekannten Verunglimpfungen von Juden auf dem Banner des Anstoßes entdeckt wurden, fühlten sich vor allem die vormaligen Verteidiger der Kunstfreiheit – darunter Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne), aber auch zahlreiche Medien wie das Kunstmagazin Monopol – düpiert und betrogen. Doch wie so oft lag auch hier der Fehler im System: Die eigenen blinden Flecke kann man nicht wahrnehmen. Vor allem dann nicht, wenn man die Wahrnehmung Außenstehender reflexartig diskreditiert.

Kritiker sehen in Vergleichen eine eine Relativierung des Holocausts

Dabei war es doch genau dieser fremde Blick, den man propagierte: Mit Stolz hatte die internationale Findungskommission der documenta 15 das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa als Vertreter des „Globalen Südens“ mit der Konzeption der Ausstellung betraut. Sie stünden für einen paradigmatischen Perspektivenwechsel in Hinblick auf den „europäischen Kolonialismus und die anhaltende Matrix globaler Machtverhältnisse“; „Bilder, die auf Nazi-Karikaturen verweisen“, dürften aber keinen Raum in dieser Ausstellung haben. Rasch wird damit der Antisemitismus nur in der deutschen Geschichte verortet. 

Die Verbindung von Judentum und Nationalsozialismus entspricht jedoch einer im muslimischen Raum durchaus verbreiteten Symbolik und findet sich auch im Zyklus „Guernica Gaza“ von Mohammed Al Hawajri: In Anspielung auf Picassos Antikriegsgemälde „Guernica“ werden israelische Truppen mit Hitlers Legion Condor gleichgesetzt, die die spanische Stadt Guernica inklusive ihrer Bewohner bombardierte.

Tatsächlich betrachtet das postkoloniale Konzept des „multidirektionalen Erinnerns“ die Shoa nicht mehr als schreckliche Singularität, sondern als vergleichbar mit anderen globalen Gewaltexzessen. Dies delegitimiert in letzter Konsequenz die Entstehung des Staates Israel, der nun als Vertreter des weißen Kolonialismus sowie als Apartheidstaat eingeordnet werden kann. 

Bereits die documenta 14 fiel mit der Performance „Auschwitz on the beach“ auf, deren Kritiker im Vergleich des Schicksals von Flüchtlingen im Mittelmeer mit der Judenverfolgung in der NS-Zeit eine Relativierung des Holocausts sahen. Der brasilianische Künstler Dim Sampaio bezog sich dabei auf Franco Berardi, einen italienischen Vordenker der globalisierungskritischen Linken: „Um die Migration zu stoppen, wird der Euro-Nazismus riesige Vernichtungslager bauen“, schrieb er. Staaten wie die Türkei und Israel fungierten als Gauleiter, das Salzwasser des Mittelmeers ersetze Zyklon B. Auch der portugiesische Schriftsteller José Saramago sah schon 2002 den „Geist von Auschwitz“ in Ramallah.

Der Widerstreit zwischen Israelkritik und Antisemitismus ist ein hoch aufgeladenes Spannungsfeld des postkolonialen Diskurses. Befeuert wird er vom Kampf gegen Israel: Transnationale, pro-palästinensische Kampagnen wie die der BDS-Bewegung, die der Bundestag 2019 in einer Resolution verurteilte, oder „A Letter Against Apartheid“, den einige Mitarbeiter der documenta 15 sowie des Kuratorenkollektivs Ruangrupa unterzeichnet haben, sehen Israel als Kolonialmacht und Apartheidsystem und fordern den weltweiten wirtschaftlichen wie kulturellen Boykott des Staates. Yazan Khalili, Sprecher des Kollektivs „The Question of Funding“, das wiederum „Guernica Gaza“ ausstellt, möchte laut seines Textes „The Utopian Conflict“ von 2014 jedoch nicht nur die Palästinenser von den Israelis befreien, sondern auch alle Juden vom Zionismus, denn dieser sei lediglich Produkt einer christlich-europäischen Unterdrückung. Damit wäre der Antisemitismus sauber ins deutsche Feld zurückgespielt.

Die Verteidiger der documenta 15 führten immer wieder die Freiheit von Kunst und Meinung an; ebenso sei Israelkritik kein Antisemitismus. Verantwortungsvolle Kuratoren hätten die Kunstfreiheit und zugleich einen wahrhaft offenen Diskurs stärken können, indem sie pro-israelische Gegenpositionen eingeladen hätten – ob aus Israel oder aus einem anderen Land wäre gleichgültig gewesen. Das aber hat das offiziell so sehr auf Diskursoffenheit bedachte Künstlerkollektiv Ruangrupa versäumt und damit weite Teile seines eigenen Konzeptes ad absurdum geführt: Denn geteilt wird hier nur unter Freunden, wie Jonas Dörge und seine Mitstreiter vom Kasseler „Bündnis gegen Antisemitismus“ in umfangreichen Recherchen gezeigt haben.

Das Kuratorenkollektiv beharrte auf den eigenen blinden Flecken 

Das führt zu einer weiteren Frage: Im aktuellen Kulturbetrieb ebenso angesagt wie der „Globale Süden“ (übrigens ein sehr vereinfachender Begriff) sind Kollektive, also kooperierende Denk- und Handlungsgemeinschaften. Die Schlagworte hierfür sind Teilhabe, Diskursoffenheit, Synergie, Multiperspektivität. Allerdings finden sich Gruppen zusammen, um ein gemeinsames Ziel zu verfolgen; der Resonanzraum für kontroverse Betrachtungen ist also verengt. Wenn das Kuratorenkollektiv Ruangrupa Kollektive einlädt, die wiederum Kollektive einladen, dann entsteht zwar ein rhizomartiges globales Netzwerk aus hierarchiefreien Vielheiten, jedoch nähren sich alle von der selben Essenz (JF 24/22). Denn, das lehrt die Menschenkenntnis: Gleich und gleich gesellt sich gern.

Man kann diese Idee des Kollektiven – auf der documenta 15 als „Lumbug“ bezeichnet – auch als Transfer des wirtschaftlichen Subunternehmertums in den Kulturbereich beschreiben. Auch hier sind die Sub-Kuratorenkollektive frei darin, wie sie ihre Aufgabe erfüllen. Bei 1.500 beteiligten Künstlern können die Hauptkuratoren unmöglich bis in die kleinste Verästelung über die Inhalte wachen. Diese Verantwortungsdiffusion gehört hier aber zum Prinzip.

Nun wird die gesamte Ausstellung auf weitere antisemitische Symbolik überprüft, um sie dann zu entfernen. Sollten sie aber nicht besser gesehen und diskutiert werden? Kulturstaatsministerin Claudia Roth fordert zudem eine Überarbeitung der Strukturen der documenta gGmbH, um zusätzlich zu Vertretern aus Kassel und der hessischen Landesregierung auch internationale Experten in den Aufsichtsrat einzubeziehen. Amar Kanwar beispielsweise ist jedoch nicht nur Mitglied der Findungskommission der documenta 15, sondern auch der „Indian Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel“ (InCACBI) und unterstützt verschiedene Boykottaufrufe gegen Israel. Taring Pardi wiederum haben in ihrem Banner „People’s Justice“ von 2002 nach eigener Aussage lediglich in Indonesien gängige Symbolik verarbeitet – die sich übrigens auch gegen den „Westen“ wendet: Über dem kriegsähnlichen Wimmelbild thront – angelehnt an die Ikonographie des „Jüngsten Gerichts“ – ein Tribunal aus Vertretern der „unterdrückten Völker“, die vor brennender Waage über dunkle Kreaturen richten. 

Als Kuratorenkollektiv hat sich Ruangrupa disqualifiziert, indem es selbst nach einer monatelangen Debatte den eigenen postkolonialen Werten – hierarchiefreier Diskurs sowie Sensibilität und Respekt gegenüber anderen Kulturen – eben nicht folgte, sondern ideologisch auf den eigenen blinden Flecken beharrte. Wenn postkoloniale Theorien einen Perspektivwechsel fordern, sollte sich dieser zudem nicht in einer banalen Kehrtwende erschöpfen. Wer die „weiße“ Welt zu „Check Your Privileges“ auffordert, sollte auch die längst entstandenen eigenen Privilegien kritisch betrachten. Deutschland kann die brennenden Probleme um Antisemitismus, Israel und Palästinenser nicht lösen. Es kann aber dafür sorgen, daß ein in der Israelkritik enthaltener systemischer Antisemitismus auch in der hiesigen Kultur und Wissenschaft diskutiert wird. Stattdessen wird immer wieder eine angebliche Judenfeindlichkeit inszeniert, um sie unter dem Label „Kampf gegen Rechts“ als Mittel gegen dem Konsens entgegenstehende Meinungen zu instrumentalisieren. Die documenta 15 hat mit ihrem rhizomartigen Netzwerk schon jetzt eines bewiesen: Grenzen verlaufen heute nicht mehr zwischen Nationen, sondern zwischen Denkräumen.