© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

„Politik gemacht wie ein Stadtverordneter“
Bismarcks späte Einsichten zum Berliner Kongreß 1878, bei dem er als „ehrlicher Makler“ die Befindlichkeiten auf dem Balkan regelte
Jürgen W. Schmidt

Die „Orientalische Frage“ bewegte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein die politische Welt in Europa. „Orientalische Frage“, das war vor allem das Problem des „Kranken Mannes vom Bosporus“, wie man das einst mächtige Osmanische Reich nunmehr despektierlich zu bezeichnen begann. Das von der Istanbuler Hohen Pforte regierte Reich war unweigerlich im Niedergang begriffen, auf der Balkan-Halbinsel begannen sich nationalistische Strömungen zu regen und neue Nationalstaaten zu existieren. Aber auch die nichttürkischen Bewohner der Türkei wie die Armenier, Araber und Perser begannen sich machtvoll zu regen. 

Nicht zuletzt aber beobachteten die europäischen Großmächte, allen voran Rußland, England, Frankreich und Österreich-Ungarn, daneben aber auch das Deutsche Reich und Italien, sehr aufmerksam die Auflösungserscheinungen der Türkei, um sich selbst ein passendes Stück Beute zu sichern und gleichzeitig feindliche Großmächte daran zu hindern, ein selbiges zu tun. Der Sommer 1878 war drückend heiß in Berlin. Da fand vor 124 Jahren im Festsaal des Obergeschosses der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße vom 13. Juni bis 13. Juli 1878 ein wichtiger europäischer  Kongreß statt, der mit der Unterzeichnung des Berliner Vertrages von 1878 endete. 

Diesem Kongreß war eine Zuspitzung der „Orientalischen Frage“ vorangegangen, welche im Krieg 1877/78 des russischen Zarenreiches und seiner kleineren Balkan-Verbündeten gegen das Osmanische Reich gipfelte. Im Siegfrieden von San Stefano hatten sich Rußland und seine balkanesischen Verbündeten große Stücke aus der Türkei herausgeschnitten, was insbesondere England und Österreich-Ungarn weder zulassen wollten noch konnten. Relativ wenig an der „Orientalischen Frage“ war indessen das Deutsche Reich unter Reichskanzler Fürst Bismarck interessiert. Bismarck kam es vor allem darauf an, daß sich die bestehenden Kräfteverhältnisse unter den europäischen Großmächten nicht weiter zuspitzten und sich dadurch neue Bündnisallianzen für das 1871 besiegte und gedemütigte Frankreich eröffneten, was Bismarcks Europa-Politik nachhaltig stören konnte. 

Da Bismarck damals als der „starke Mann“ in Europa galt, bot sich Berlin als Austragungsort des Kongresses an, um die Interessenlage der europäischen Großmächte und der kleinen Balkanstatten, welche San Stefano Anfang 1878 durcheinandergewirbelt hatte, neu auszutarieren. Bismarck wollte hier als „ehrlicher Makler“ fungieren, da Deutschland für sich nichts auf Kosten der Türkei einzustreichen beabsichtigte. Daß natürlich die Ergebnisse von Rußlands Siegfrieden in San Stefano leiden mußten, war von vornherein klar. 

Gerade unter dem Einfluß der Panslawisten wurde später in Rußland bewußt gegen das Deutsche Reich und Bismarck gehetzt, welche Rußland angeblich 1878 in Berlin fast um alle Früchte seiner militärischen Siege gebracht hätten. Der englische Staatsmann Benjamin Disraeli kam jedenfalls nach Kongreßende erfreut nach London zurück und verkündete hier, er bringe „peace with honour“ mit sich. Auch der französische Abgesandte William Henry Waddington kam fröhlich in Paris an. Hatte er auch wenig direkt für Frankreich erreicht, so durfte doch wenigstens Frankreich wieder als Großmacht im „Klub der großen Jungs“ mitspielen, und Waddington winkte binnen kurzen als Belohnung der Posten des französischen Ministerpräsidenten. 

In Rußland hingegen meinte Zar Alexander II. damals sehr erleichtert: „Gott sei Dank, wir können sehr zufrieden sein“. Der einzige, der mit den Ergebnissen des Berliner Kongresses haderte, war merkwürdigerweise Bismarck selbst, der meinte: „Die größte Torheit meines politischen Lebens war der Berliner Kongreß. Ich hätte Rußland und Frankreich sich gegenseitig auffressen lassen sollen. (…) Dann hätten wir jetzt mehr Einfluß. Aber ich habe damals Politik gemacht wie ein Stadtverordneter.“ Einzig einige kleine Nationen auf dem Balkan wie Rumänien, Serbien und Bulgarien hielten sich, ganz im Gegensatz etwa zu den Griechen, für die großen Verlierer von Berlin. Doch immerhin hielt der Vertrag von Berlin über dreißig Jahre, ehe mit den Balkankriegen und letztlich dem Kriegsausbruch von 1914 die Karten auf dem gesamten Balkan neu gemischt wurden. Der Publizist Bernd Rill hat ein sehr lesenswertes Buch über die „Orientalische Frage“ und den Berliner Kongreß von 1878 verfaßt, dessen frische Darstellung und klare verständliche Sprache man schlichtweg loben muß.

Bernd Rill: Der Berliner Kongreß von 1878. Bismarcks Meisterstück? Ein Erfolg europäischer Friedensdiplomatie. Verlag Dr. Köster, Berlin 2022, gebunden, 356 Seiten, 24,95 Euro