© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

Der Globalismus ist gescheitert
Der Westen muß sich auf seine Traditionen konzentrieren und vom Universalismus abkehren
Fritz Söllner

Der Politologe Heinz Theisen sieht die Wurzel vieler Probleme, mit denen der Westen heute konfrontiert ist, in seinem Universalismus, der fremden Kulturkreisen westliche Vorstellungen und Strukturen aufzwingen wollte. Dessen Scheitern hätte nicht etwa zur Besinnung auf die Grenzen des Möglichen, sondern im Gegenteil zu einer weiteren Entgrenzung in Form des Globalismus geführt, der überhaupt „keine Kulturen und Nationen mehr“ kenne und deshalb mit einem Verlust an Selbstbehauptung und Stabilität im Westen einhergehe. „Die vorrangige Aufgabe gilt daher der Selbstbehauptung durch eine kulturelle und politische Selbstbegrenzung auf den eigenen Kultur- und Strukturraum. Unter der Voraussetzung seiner Selbstbegrenzung – so die These dieses Buches – hat der Westen noch eine Chance, sich selbst zu behaupten“.

Zur Untermauerung dieser These analysiert Theisen die katastrophalen Folgen der globalisti-schen Entgrenzung auf vielen Politikfeldern: von der Flüchtlingspolitik, bei der die Fernstenliebe an die Stelle der Solidarität mit den eigenen Landsleuten tritt, über die Klimapolitik, bei der die EU mit einem Anteil von unter zehn Prozent an den globalen Treibhausgasemissionen versucht, die Welt zu retten und dabei die Grundlagen ihres Wohlstands zerstört, bis zum unbeschränkten Freihandel, der ungeachtet aller gesellschaftlichen Konflikte und eines drohenden Untergangs strategisch wichtiger Industrien vorangetrieben wird.

Auch geopolitische Krisen führt Theisen auf westlichen Universalismus und westliche Entgrenzung zurück. Der aktuelle Ukraine-Krieg sei durch die Überdehnung der Nato und die Unfähigkeit der Globalisten, russische Überlegungen und Interessen zu verstehen, verursacht worden. Theisen sieht es als „einen der großen außenpolitischen Fehler des neuen Jahrhunderts, Rußland an den Maßstäben des Westens zu messen“. Statt einem möglichen Sicherheitspartner habe der Westen dadurch einen weiteren Gegner erhalten und die Position Chinas gestärkt. Das Vorherrschaftsstreben der Nato müsse durch das Leitbild von „Gleichgewicht und Koexistenz“ abgelöst werden. Eine mögliche Lösung könne deshalb nur auf der Grundlage einer Selbstbegrenzung der Nato gefunden werden; sie müsse die Neutralität der Ukraine nach außen und deren Föderalisierung nach innen beinhalten.

Die notwendige Selbstbegrenzung auf diesem und auf anderen Gebieten sei jedoch nicht als Isolationismus zu verstehen, sondern als Ablösung des Universalismus durch eine multipolare Ordnung, in der die Nationalstaaten zwar selbstbewußt ihre Interessen vertreten, aber zur Lösung globaler Probleme, deren Existenz Theisen natürlich nicht leugnet, zusammenarbeiten – unter gegenseitiger Anerkennung ihrer unterschiedlichen Werte, Traditionen und Strukturen. Nur so könnten die in vielen Ländern aufbrechenden Konflikte zwischen einem die Existenz von verschiedenen Nationen und Kulturen negierenden Globalismus und einem regressiven Nationalismus überwunden werden.

Selbstbehauptung des Westens bedingt auch Selbstbegrenzung

Der EU empfiehlt Theisen die Schweiz als Vorbild und fordert: „Während eine Union nach innen die Vielfalt der Nationalstaaten respektiert, sollte sie nach außen gemeinsam abwehrbereit sein“. Es sei hinzugefügt, daß Vielfalt im Inneren und Geschlossenheit nach außen nicht nur wünschenswert sind, sondern daß vielmehr ein nach außen starkes Europa die Vielfalt im Inneren sogar voraussetzt. Europa wird nur dann geschlossen auftreten können, wenn es nicht durch Kulturkämpfe zerrissen wird, mit denen Brüssel den Mitgliedstaaten seine sozial- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen aufzuzwingen sucht. Allerdings muß der Behauptung des Autors, es gäbe „kein Zurück aus dem Euro“ entschieden widersprochen werden. Im Gegenteil, der von ihm gewünschte Erhalt der inneren Vielfalt ist mit dem Euro gar nicht möglich – erzwingt dieser doch auf die Dauer eine gemeinsame Wirtschafts-, Sozial-, Steuer- und Schuldenpolitik, die zu einer Vereinheitlichung im großen Maßstab führen wird. Diese Entwicklung, die sich momentan wieder einmal krisenhaft zuspitzt, können wir seit Jahren beobachten.

Ganz überwiegend ist jedoch den Politikempfehlungen des Autors zuzustimmen. Er zeigt, wie die zur Selbstbehauptung Europas und des Westens notwendige Selbstbegrenzung auf verschiedenen Gebieten aussehen müßte. Die diesen Empfehlungen zugrundeliegende Problemdiagnose ist überzeugend. Viele der uns beschäftigenden Probleme können auf den gemeinsamen Nenner der Entgrenzung heruntergebrochen werden. Die Frage, ob die von Theisen behauptete zeitliche Abfolge von Universalismus und Globalismus tatsächlich existiert oder ob es sich vielleicht eher um parallele, sich teilweise überschneidende Erscheinungen handelt, erscheint demgegenüber sekundär. 

Der Autor ist Realist genug, um die Schwierigkeiten bei der Umsetzung seiner Vorschläge im aktuellen politischen Klima nicht zu verkennen, welches durch den Verlust der „Offenheit der Diskurse und Entscheidungswege“ gekennzeichnet sei. Dafür, wie die ideologische Hegemonie der globalistischen Elite überwunden werden kann, hat er leider kein Patentrezept. Einem pessimistischen Leser drängt sich nicht zuletzt deshalb folgende Frage auf: Haben die Völker des Westens überhaupt noch den Willen zur Selbstbehauptung oder sind sie durch die Wächter der Politischen Korrektheit schon so eingeschüchtert, durch die ständige Medienindoktrination schon so benebelt und durch die staatlichen Sozialleistungen schon so korrumpiert, daß sie sich willenlos in ihr Schicksal ergeben – das Verschmelzen zu einer anonymen und homogenen Masse, die der globalen Elite widerstandslos gefügig ist? Der Autor ist zuversichtlich und meint, daß „noch Zeit für den Wiederaufbau von offenen Diskursen in wieder aufzubauenden offenen Gesellschaften“ bleibe, der Grundvoraussetzung für die von ihm angestrebte Selbstbehauptung durch Selbstbegrenzung. Wollen wir hoffen, daß er recht hat!






Prof. Dr. Fritz Söllner lehrt Volkswirtschaftslehre an der Technischen Universität Ilmenau

Heinz Theisen: Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müs-sen. Lau Verlag, Reinbek 2022, broschiert, 392 Seiten, 24 Euro

Foto: Menschenpyramide beim traditionellen Jornada castellera, Barcelona 2016: Katastrophale Folgen der Entgrenzung