© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/22 / 01. Juli 2022

Der Flaneur
Segeln für jedermann
Paul Leonhard

Die Regatta hatte wohl bereits kurz nach Sonnenaufgang begonnen. Als ich erscheine, führt ein Segelboot mit weißem Rumpf und rotblauen Segeln. Aber die Verfolger – zwei blütenweiße Segler – sind dicht auf. Einer schafft es sogar, den bisherigen Spitzenreiter zu schneiden und die Führung zu übernehmen. Dicht zischt das Tuch über die Wellen, fast droht das Boot umzukippen. Aber dann richtet es sich stolz wieder auf und fährt auf die nächste Boje zu. Der Kapitän zieht sich zufrieden die Mütze auf den Hinterkopf und lehnt sich entspannt zurück.

Vier Kapitäne sitzen auf Klapphockern wie die Feldherren auf einem Kieshügel. Die Füße stecken in Gummistiefeln oder Badelatschen. In den Händen halten sie Fernsteuerungen. Neben ihnen stehen offene Koffer mit bereitliegendem Werkzeug. Ein Windsack in den deutschen Nationalfarben zeigt, woher die leichte Brise kommt, die das Spielzeug antreibt.

Plötzlich ziehen alle die Köpfe ein: Ein halbes Dutzend Wildgänse fliegt laut schimpfend über sie hinweg.

Ein fünfter steht brubbelnd am Ufer und hält etwas ratlos seinen Segler in den Händen. Die Kommentare seiner Freunde ignoriert er. Er setzt das Boot behutsam auf den Kies, zieht einen Schraubenzieher hervor und beginnt, es zu reparieren. Dann ziehen sie plötzlich alle die Köpfe ein: Ein halbes Dutzend Wildgänse zieht laut schimpfend über sie hinweg. Aufgescheucht wurden die Vögel von einem Schwanenpaar, das deutlich gemacht hat, wer der Besitzer der zehn Meter entfernten Sandbank am Ufer ist. Nach diesem Erfolg können sich auch stolze Schwäne mal füttern lassen. Eine rundliche Frau direkt am Ufer hat sich in einen Klappstuhl gezwängt und freut sich darüber, daß die weißen Vögel abwechselnd nach ihrem Kleid und ihrer Hand schnappen. In einem Beutelchen hat sie offenbar Brotreste und andere Leckereien.

 Ich drehe eine Runde um den See, lege mich irgendwo hin und lese. Als ich nach zwei Stunden zurückkomme, erinnert nichts mehr an Segelbootregatta und Schwanenfütterung. Lauter junge Menschen haben es sich inzwischen auf Decken gemütlich gemacht. Weit draußen schwimmen die Schwäne. Auch am See hat alles seine Zeit.