© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Schuld ist wieder keiner
Zur Evaluation der Corona-Maßnahmen fehlen die Daten – ein Armutszeugnis
Mathias Pellack

Es ist der vielleicht ehrlichste Bericht, der dem Bundesgesundheitsministerium seit dem 2019 erfolgten Ausbruch von Sars-CoV-2 in Wuhan vorgelegt wurde. Die Fragen, die beantwortet werden sollten: Was haben die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus überhaupt gebracht, auch mit Blick auf künftige Gesundheitskrisen? Und was haben sie uns im Gegenzug gekostet? Die Antwort des Sachverständigenrates, eingesetzt vom Parlament und dem BMG, lautet letztlich: „Wir wissen es nicht genau.“ Und das ist nach mehr als zwei Jahren deklarierter „pandemischer Lage“ ein Armutszeugnis sondergleichen, das auch personelle Konsequenzen nach sich ziehen müßte – aber leider nicht wird.

Die Politik habe nicht die Grundlagen geschaffen, keine Daten besorgt und kaum Studien beauftragt, um eine ordentliche Bewertung der Maßnahmen vornehmen zu können, ist die Hauptaussage des Gutachtens. Klar, Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist sich sicher: „Die Maßnahmen wirken!“ Das wiederholt er mantrahaft und hat damit auch irgendwie recht. Leider weiß nur eben immer noch niemand, in welcher Weise sie wirken. Im besten Fall helfen einzelne Maßnahmen wie etwa das Masketragen. Wenngleich die Gruppe sich uneins war, welche Masken vorzuziehen seien, ob OP-Masken, die besser sitzen, oder FFP-2, die dichter sind. 

Doch was ist, wenn die Maßnahmen so wirken wie Klaus Stöhr – der leider einzige Epidemiologe im Sachverständigenrat – es erklärt: „Wenn man einen Eimer Wasser ins Meer schüttet, ist das Meer definitiv voller. Aber es ist nicht zu merken!“ Hier lassen sich etwa die Ausgrenzungen der Ungeimpften anführen, technisch neutral als 2G verklausuliert – mitfühlende Gemüter sollen ja nicht an eine Impfstatus-Apartheid denken müssen, wenn sie beim Eintritt zur Kulturveranstaltung ihren Barcode vorzeigen. 

2G hat nichts gebracht, lautet die klare Bewertung. Weder konnte damit wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder oder Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher behaupteten, die Inzidenz gesenkt werden, noch – und das hatte die Politik als das entscheidende Argument vorgebracht – erhöhten diese Freiheitsberaubungen für Impfunwillige die heiligen Impfquoten.

Doch schlimmer noch: Was ist, wenn die staatlichen Eingriffe mehr als vorübergehende Freiheitseinschränkung, gleichheitsberaubende Ausgrenzung und sinnlose Verschwendung von Zeit sowie Ressourcen sind? Was ist, wenn etwa Schulschließungen die Gesundheit ganzer Generationen von Kindern im gesamten verschlechtern?

Dicker, depressiver und vereinsamt sind die Kinder, konstatiert der Rat. Und trotzdem schreibt die Kommission, die „genaue Wirksamkeit“ sei „weiterhin offen“. Dagegen läuft der Epidemiolge Stöhr Sturm. Der einzige der Gruppe übrigens, der sich mit der Auswirkung von Virusausbrüchen auf eine Bevölkerung berufsmäßig beschäftigt hat. Unentwegt erklärt er in alle verfügbaren Mikrofone, daß Schulschließungen unter allen Umständen zu vermeiden seien, wegen ebenjener unzähliger „nicht-intendierter Folgen“. 

Aber während sich die internationale Literatur zu Auswirkungen und Nebenwirkungen stapelt, haben der Gesundheitsminister und seine Helfer längst schon Vorarbeit geleistet, um die harten und erwarteten Vorwürfe abzufedern. Ein erster Entwurf des Papiers war bereits Anfang Juni in der Süddeutschen Zeitung verrissen worden. Lauterbach selbst hatte mehrfach erklärt, er könne auf das Papier verzichten, denn die internationale Studienlage sei besser und vor allem „eindeutig“. Aber gerade das ist ja der härteste Vorwurf an den Gesundheitsminister  und seinen Vorgänger Jens Spahn! Die angebliche Wissenschaftsnation Deutschland bringt es nicht fertig, ein vollständiges Lagebild dieser Krise im Gesundheitssystem zu bieten. Dänemark, Großbritannien, Israel und Taiwan sind hier um Welten besser und haben verheerende Maßnahmen wie Schulschließungen längst aus dem Instrumentenkasten verbannt. Dazu kommt: Ausgespart hat der Rat gänzlich die heiße Thematik der Impfnebenwirkungen. Dies solle weiter in den Händen der Stiko bleiben. Die Evaluation läuft hier noch schleppender: Das zuständige Paul-Ehrlich-Institut klagt, es bekäme keine Daten von den Kassenärztlichen Vereinigungen. Und im Gegenzug behaupten die Gesetzlichen Krankenkassen, niemand würde ihre enormen Datenbestände abfragen.

Zwar fordern die FPD-Politiker Wolfgang Kubicki und Frank Schäffler nun die Entlassung von RKI-Chef Lothar Wieler. Dabei liegt das eigentliche Problem mindestens eine Stufe höher. Auch wenn Wieler zu selten und zu wenig darauf hingewiesen hat, ist seine Behörde schlecht ausgestattet und mit Aufgaben überfrachtet. Das Gesundheitsministerium hält Wieler wie ein As im Ärmel, für den Fall, daß tatsächlich mal jemand ernsthaft den Rücktritt des unfähigen oder unwilligen Ministers fordern sollte.

Häufig gab es Beispiele wie das des Wirtschaftswissenschaftlers Lars Feld, der bereits Anfang 2020 mit einem Vorschlag für ein großangelegtes Antikörper-Screening an das BMG herantrat. Damals wie heute zeigte niemand Interesse. Jüngst hat der Bonner Virologe Hendrik Streeck eine Studie mit ähnlichem Inhalt kurzfristig doch gefördert bekommen – allerdings wiederum nicht vom SPD-geführten Gesundheitsministerium, sondern vom FDP-geführten Ministerium für Bildung und Forschung. So soll bis zum Herbst endlich ermittelt werden, wie groß die von den Angstmachern angeführte Impflücke denn nun wirklich ist.

Wie Wieler war Lauterbach dabei schon während der Amtszeit seines Vorgängers Jens Spahn ein bedeutender Souffleur der Corona-Politik. Zum einen hatte er durch massive Medienpräsenz das pharmafreundliche Narrativ der harten Eingriffe gestützt, zum anderen fand er auch ohne Amt ein offenes Ohr in der von Sorge getragenen Kanzlerin Angela Merkel. In jedem Fall bleibt zu sagen: Die Maßnahmen wirken! Nur wie und ob mehr positiv oder negativ – das kann ohne vernünftige Daten auch das engagierteste Expertengremium nicht beantworten.