© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

So richtig weiß niemand Bescheid
Ukrainer in Deutschland: Die vor dem Krieg Geflohenen sind kein Fall mehr für die Asylbehörden, sondern für die Jobcenter
Jörg Kürschner

Die lückenhafte Registrierung der Ukraine-Flüchtlinge bei der Einreise, die unbekannte Zahl der Rückkehrer, die bürokratischen Hürden bei der Integration erschweren konkrete Daten zur Aufnahme der vom Krieg Vertriebenen in Deutschland. Statistisch gesichert ist gerade mal der deutliche Anstieg der Arbeitslosenquote, da die Flüchtlinge seit Anfang Juni Anspruch auf Grundsicherung („Hartz IV“) haben.  

Mitunter sind die Regierungspressekonferenzen erhellend, wo die Ministeriumssprecher den Hauptstadtjournalisten Rede und Antwort stehen. So wurde der Sprecher des Bundesinnenministeriums kürzlich nach dem aktuellen Stand der registrierten ukrainischen Flüchtlinge gefragt. Sascha Lawrenz nannte die Zahl von „rund 865.000 Datensätzen im Ausländerzentralregister“ und relativierte die Aussage umgehend. „Wir haben in der Vergangenheit auch schon darüber informiert, daß die Interpretation dieser Zahl nicht so ganz einfach ist, weil Menschen in die Ukraine zurückkehren und weil es womöglich Doppelerfassungen durch die fortschreitende Registrierung von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine gibt“.   

In der Tat ist eine seriöse Interpretation der Flüchtlingszahlen kaum möglich. Die Datenlage ist lückenhaft. Trotz deutlicher Kritik der Union und der AfD hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) im Frühjahr eine Kontrolle aller Flüchtlinge vehement abgelehnt. „Wir reden vor allem von Kindern und Frauen, die tagelang auf der Flucht sind, die in der Kälte an der polnischen Grenze ausharren mußten“. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann CSU) hatte die anderen Bundesländer aufgerufen, dem bayerischen Beispiel zu folgen, die Flüchtlinge nicht nur zu registrieren, sondern auch erkennungsdienstlich zu behandeln. Vergeblich. 

So verwundert es nicht, daß Politik und Behörden bei der Integration der Flüchtlinge allzu oft auf Sicht fahren. Ein Beispiel: Mitte Juni besuchten Faeser und Berlins Sozialsenatorin Katja Kipping (Linke) eine Flüchtlingsunterkunft in der Hauptstadt. „Wir müssen jederzeit damit rechnen, daß es wieder zu einem sprunghaften Anstieg kommt“, mahnte Kipping. Die Innenministerin widersprach: „Ich glaube nicht, daß wir einen sprunghaften Anstieg haben werden“, so Faeser. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) ergänzte, angesichts der erheblichen Zerstörungen in der Ukraine sei nicht mit einer Rückkehr vieler Menschen in ihr Heimatland zu rechnen. „Wir in Deutschland werden die Großherzigkeit länger brauchen“.

Teil dieser (staatlichen) Großherzigkeit ist die Entscheidung von Bundestag und Bundesrat, Ukraine-Flüchtlinge wie anerkannte Flüchtlinge zu behandeln, allerdings ohne Asylverfahren. Sie sollen so schnelleren Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Zuvor erfolgte die finanzielle Unterstützung durch das Asylbewerberleistungsgesetz. Die AfD spricht von einer „unverständlichen Bevorzugung einer Flüchtlingsgruppe“. Die Ukrainer würden in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen, erhielten Kindergeldanspruch, Unterhaltsvorschuß und könnten Qualifizierungsangebote wie Sprachkurse annehmen, ohne vorher jemals etwas ins System eingezahlt zu haben, kritisierte der sozialpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, René Springer. Seine Fraktionskollegin Gerrit Huy befürchtet „eine Ausdehnung dieser sehr teuren Regelung auf Wirtschaftsmigranten, die früher oder später dieselben Rechte in Anspruch nehmen werden“.

Experten rechnen mit Pendelmigration 

Durch den Wechsel der Ukraine-Flüchtlinge vom Sozialamt zum Arbeitsamt ist die Arbeitslosenquote im Juni – anders als in dieser Jahreszeit üblich – deutlich gestiegen. Der Chef der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, hat eine Zunahme um 103.000 auf 2,3 Millionen Menschen errechnet. Damit ist die Quote auf 5,2 Prozent geklettert. Nach seinen Worten haben sich bislang 267.000 Flüchtlinge bei den Jobcentern und Arbeitsagenturen gemeldet. „Grob geschätzt“ hätten etwa 12.000 Ukrainerinnen eine Stelle gefunden. Das sei nicht viel, häufig fehlten Kitaplätze oder Deutschkenntnisse. Den Fachkräftemangel in Deutschland könnten sie nicht beheben. 

Scheele, der sein Amt zum 1. August an die frühere SPD-Politikerin Andrea Nahles abgibt, geht davon aus, daß sich noch deutlich mehr arbeitssuchende Flüchtlinge melden werden. Genauere Angaben sind nicht möglich, da Ukrainer visafrei und damit meist ohne Kontrolle einreisen dürfen. So ist offen, wie viele Flüchtlinge in andere EU-Länder weiterreisen oder in ihre Heimat zurückkehren. Die Rede ist auch von einer Pendelmigration zwischen der Ukraine und Deutschland. Eine Regierungsberaterin in Kiew warnte vor einer übereilten Rückkehr ihrer Landsleute.  

Der Deutsche Lehrerverband beklagte unterdessen Geldmangel, um Kinder und Jugendliche aus der Ukraine besser ins deutsche Schulsystem einzugliedern. Ob Kinder in eine Regelklasse oder in eine Willkommensklasse kämen, hänge vielfach von der Situation vor Ort ab, so Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger. Das seien schlechte Voraussetzungen für eine dauerhafte Integrationsperspektive. 

Foto: Geflüchtete ukrainische Kinder werden in Dresden unterrichtet: Schlechte Voraussetzungen für eine dauerhafte Integration