© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Kraft durch Leute
Bundeswehr: Die Nato stockt ihre Speerspitze an der Ostflanke des Bündnisses auf / Ob und wie Deutschland die neuen Verpflichtungen erfüllen kann, ist derzeit noch völlig unklar
Peter Möller

Die Bundeswehr rechnet wieder in Divisionen. In jüngster Zeit hatten sich die drei verbliebenen Divisionen des Heeres (die 1. und 10. Panzerdivision sowie die Division Schnelle Kräfte) immer mehr zu besseren Verwaltungseinheiten entwickelt. Daran, daß eine komplette Division als Kampfverband geschlossen zur Bündnisverteidigung ins Ausland verlegt wird, war auch angesichts der unzähligen Sparrunden der vergangenen Jahrzehnte überhaupt nicht mehr zu denken.

Das muß sich nun ändern. Schnell. Denn auf dem Nato-Gipfel in Madrid hat das westliche Militärbündnis in der vergangenen Woche als Reaktion auf den Angriffskrieg Rußlands gegen die Ukraine unter anderem beschlossen, seine schnellen Einsatzkräfte von derzeit 40.000 auf mehr als 300.000 Soldaten zu erhöhen. Für die Bundeswehr bedeutet dies, daß sie künftig wesentlich mehr Truppen zum Schutz der Ostflanke der Nato zur Verfügung stellen muß als bisher. Deutschland stellt bislang den größten Teil der sogenannten Battle Group in Litauen mit fast 1.000 Soldaten. Bisher war geplant, diese im Ernstfall auf eine Kampfbrigade mit rund 3.500 Soldaten aufzustocken.

Doch diese Pläne sind nun überholt. „Wir haben schon angekündigt, daß wir bereit sind, eine Division zu stellen, sprich 15.000 Soldatinnen und Soldaten, und dazu natürlich auch entsprechend das Material“, sagte Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) in Madrid zum künftigen deutschen Beitrag zur Stärkung der Ostflanke des Bündnisses. Hinzu kämen 65 Flugzeuge und 20 Schiffe. „Die Nato muß stark sein, und das muß sich auch ausdrücken in den Zahlen der Soldatinnen und Soldaten.“ Deutschland stellt die Einsatzfähigkeit der bereitgestellten Truppen in Divisionsstärke für 2024 in Aussicht; Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg drängt dem Vernehmen nach sogar auf einen früheren Zeitpunkt.

Ursprünglich hatte Deutschland angekündigt, ab 2025 eine Heeresdivision der Bundeswehr einsatzbereit zu machen, um gegebenenfalls auf die Bedrohung der baltischen Staaten durch Rußland reagieren zu können. Schon dieser Termin galt in Berlin als äußerst ambitioniert und kaum zu halten. Auch wenn mit den 100 Milliarden Euro des Sondervermögens für die Bundeswehr grundsätzlich ausreichend Geld zur Verfügung steht, sehen Experten die neuen Pläne daher als große Herausforderung für die Bundeswehr – vielleicht sogar als zu groß. 

„Sportlich, sportlich, was da auf uns zukommt“

Schon jetzt ist das sogenannte Großgerät, also insbesondere Kampf- und Schützenpanzer, in der Truppe äußerst knapp bemessen. Schon die Vorbereitung der Bundeswehr für die Führung der sogenannten Speerspitze der Nato, die Deutschland 2023 übernimmt, hat gezeigt, wie schwer es der Truppe fällt, die dafür eingesetzte Panzergrenadierbrigade 37 „Freistaat Sachsen“ mit dem notwendigen Material voll auszustatten, ohne andere Einheiten zu kannibalisieren, indem aus diesen Panzer und andere Ausrüstungsgegenstände „ausgeliehen“ werden.

Anders als etwa bei den amerikanischen Streitkräften, die traditionell große Mengen an Material eingelagert haben, wurden in der Bundeswehr mit deutscher Gründlichkeit nahezu alle Bestände an überzähligem Großgerät in den vergangenen Jahrzehnten verkauft oder dem Schneidbrenner überlassen und die Materialdepots zum Großteil aufgelöst. Das war zuletzt auch in der Diskussion über Waffenlieferungen an die Ukraine deutlich geworden – lediglich die Rüstungsindustrie verfügt in Deutschland noch über gewisse Reserven. Erschwerend kommt hinzu: Neue Panzer kann auch die Bundeswehr nicht mal eben so bei der Industrie einkaufen. Zusätzliche Leopard-2-Panzer oder Puma-Schützenpanzer brauchen von der Bestellung bis zur Auslieferung mindestens zwei Jahre.

Das Konzept der Nato sieht nun unter anderem vor, mehr Ausrüstung und weitere militärische Versorgungsgüter an der Ostflanke des Bündnisses, also etwa in den baltischen Staaten, einzulagern. Für die Bundeswehr könnte das bedeuten: Das Gerät der Division wird teilweise etwa in Litauen stationiert, das Personal würde rotieren. Dadurch steigt der Bedarf an Material, da die Truppe in der Heimat zusätzliches Gerät zum Üben benötigt.

Doch es hapert nicht nur am Material. Auch personell dürften die neuen Verpflichtungen die Truppe an ihre Grenzen bringen. Denn anders als Panzer und Gewehre können Soldaten nicht einfach eingekauft werden. Derzeit liegt die Stärke der Bundeswehr bei etwas mehr als 183.000 Soldaten; sie erreicht damit nicht einmal ihre Sollstärke von 200.000. Schon seit der Aussetzung der Wehrpflicht fällt es den Streitkräften schwer, für ausreichend Nachwuchs zu sorgen. Durch den Krieg Rußlands gegen die Ukraine dürfte das Werben um neue Soldaten nicht leichter geworden sein.

Was die aktuellen Pläne bedeuten, machte der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, deutlich. Es sei eine Riesenherausforderung, aus einem Zustand der kleinsten Bundeswehr aller Zeiten diese Aufgabe bis 2024/2025 zu übernehmen, sagte er im ARD-Morgenmagazin. Da habe die Verteidigungsministerin einiges zu tun. Auch die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl (SPD), sieht die Truppe gefordert. „Für die Bundeswehr bedeutet das eine enorme Herausforderung und erfordert große Anstrengungen hinsichtlich Personal, Material, Ausrüstung und Infrastruktur“, sagte sie der Augsburger Allgemeinen.

Unter Soldaten herrscht offenbar eine Menge Skepsis: „Sportlich, sportlich, was da auf uns zukommt“ oder „Mir stellt sich da die alte Frage: ‘Woher nehmen, wenn nicht stehlen?’“ – so lauten zwei Kommentare im Forum des von Sicherheitsexperten und Militärs vielbeachteten Fach-Blogs „Augen geradeaus“. Andere Kommentatoren bezweifeln, daß für diese Art des Aufwuchses die geplanten Mittel im Haushalt – inklusive der zusätzlichen hundert Milliarden Euro – ausreichen werden. 

Und auch der Faktor Zeit stellt eine weitere Herausforderung dar. Denn die Einsatzbereitschaft und Mobilität von Truppen der Eingreiftruppe wurde bereits erhöht, sie muß schneller marschbereit sein. Bereits im Winter war die Zeit bis zum Herstellen der Verlegebereitschaft nach Eingang eines Alarmbefehls – im Fachjargon „notice to move“ (NTM) – herabgesetzt worden. Das gilt dann künftig für ein größeres Kontingent von Menschen und Material. Die Speerspitze muß in 48 bis 72 Stunden bereit sein, dorthin verlegt zu werden, wo sie jeweils benötigt wird.

Wie die neuen Nato-Ziele von der Bundeswehr umgesetzt werden können, wird im Verteidigungsministerium derzeit unter Hochdruck geprüft. Nicht auszuschließen ist, daß Teile des Heeres dafür – zumindest zeitweise und über Divisionsgrenzen hinweg – zu einer Art Nato-Division kombiniert werden könnten. Im Verteidigungsministerium laufen derlei Überlegungen derzeit unter dem Stichwort „Division 2025“. Welche Einheiten am Ende genau gestellt werden, sei noch nicht völlig klar. „Darüber sind wir im Moment in enger Abstimmung. Aber wir sind sehr guten Mutes, daß wir das mit den entsprechenden Ressourcen, die wir gerade zusammenstellen, hinbekommen werden“, teilte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Christian Thiels, in der vergangenen Woche mit.

Foto: Deutsche Heeresaufklärer als Teil der Nato-Kampfgruppe in Litauen: „Guten Mutes, daß wir das hinbekommen“