© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Ein schlechtes Zeugnis
Evaluation der Corona-Maßnahmen: Grundrechte wurden eingeschränkt und Maß-nahmen verordnet, ohne deren Wirkung zu prüfen. Nach etlichen Verschiebungen liegt jetzt der Sachverständigenbericht zur Corona-Politik vor
Björn Harms / Mathias Pellack

Lockdowns, Maskenpflicht, Schulschließungen, Ausgangssperren, 2G: Seit über zweieinhalb Jahren ist die Bevölkerung in Deutschland mit den unterschiedlichsten Corona-Maßnahmen konfrontiert. Was aber haben diese Einschränkungen überhaupt gebracht? Eine eigens eingesetzte Sachverständigenkommission sollte genau dieser Frage nachgehen. Am vergangenen Freitag überreichte das Gremium Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) seinen lange erwarteten Evaluationsbericht. Dessen Bilanz: durchwachsen.

Lange Zeit war dabei unklar geblieben, wann der Bericht überhaupt erscheint. Im Infektionsschutzgesetz hatte der Bundestag 2021 festgelegt,  daß das Gesundheitsministerium (BMG) eine rückwärtsblickende „externe Evaluation zu den Auswirkungen“ der Corona-Maßnahmen vorlegen solle, wobei die Untersuchung „interdisziplinär“ zu erfolgen habe und zwar „auf Basis epidemiologischer und medizinischer Erkenntnisse“. Der Bericht solle helfen, so heißt es im jetzigen Papier, „zukünftig präventiv, rasch und zielgenau auf große Gesundheitsrisiken reagieren zu können“.

Die 18 Sachverständigen hierfür wurden jeweils zur Hälfte vom Bundestag und der Bundesregierung ausgewählt. Sechs davon sind Juristen. Im Oktober 2021 fand die erste konstituierende Sitzung statt. Zunächst plante man eine Veröffentlichung im Dezember 2021. Dann jedoch verschob das Ministerium den Termin. Zunächst auf März 2022, später auf den 30. Juni. Gleichzeitig preschte Minister Lauterbach immer wieder vor und forderte, Maßnahmen für den Herbst einzuleiten, ohne die Ergebnisse der Evaluierung überhaupt abzuwarten. Die FDP pochte jedoch darauf, daß man erst über neue Maßnahmen verhandeln würde, wenn der Sachverständigenrat seine Arbeit vorgelegt habe. 

Zwischenzeitlich war es so auch im Gremium immer wieder zu Unstimmigkeiten gekommen. Ende April stieg der Virologe Christian Drosten aus. Er sei zu der Überzeugung gelangt, daß Ausstattung und Zusammensetzung nicht ausreichten, um eine wissenschaftlich hochwertige Evaluierung gewährleisten zu können, erklärte er. Zudem beklagte der 50jährige die „systematische Indiskretion“ einzelner Mitglieder, die immer wieder Interna an die Öffentlichkeit durchgestochen hätten. Drosten war neben dem Bonner Virologen Hendrik Streeck ohnehin in die Kritik geraten, weil beide auch Teil des Corona-Expertenrats der Bundesregierung sind. Dieser war maßgeblich an den Corona-Entscheidungen der vergangenen zwei Jahre beteiligt. Die Angehörigen des Sachverständigenrats wiederum kritisierten schon vorab den eklatanten Datenmangel und machten dafür die Bundesregierung und das Robert-Koch-Institut (RKI) verantwortlich. Für Drosten rückte schließlich am 6. Juni auf Vorschlag der Unions-Bundestagsfraktion der Epidemiologe Klaus Stöhr in das Gremium nach.  

Daten geben keine Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken her

Bereits vor der Veröffentlichung wurde aus unterschiedlichsten Richtungen versucht, die Arbeit der Kommission zu diskreditieren. Am 8. Juni berichtete die Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt in der Süddeutschen Zeitung, daß der erste Entwurf der Experten „in Fachkreisen bereits verrissen“ werde. Es sei zu befürchten, daß die „wichtige Evaluation am Ende nicht die Erwartungen erfüllen wird“. Maßnahmenbefürworterin Berndt jedenfalls bot schon vorab eine Einordnung des Papiers an: „Wenn es keine Evidenz gibt, heißt das nicht, daß etwas nicht wirkt“, erklärte sie auf Twitter.

Noch am 30. Juni bat das Gremium erneut um Aufschub. Einen Tag später jedoch war es dann soweit. Was also steht nun drin in dem lang erwarteten 160seitigen Schriftstück? Die wohl prominenteste Erkenntnis: Seit Beginn der Pandemie hätte eine „ausreichende und stringent begleitende Daten­erhebung“ gefehlt, „die notwendig gewesen wäre, um die Evaluierung einzelner Maßnahmen oder Maßnahmenpakete zu ermöglichen“. Außerdem sei der Sachverständigenrat für die Beantwortung „dieser Fragestellung weder personell ausgestattet, noch hatte er einen ausreichend langen Evaluationszeitraum zur Verfügung“.

Tatsächlich fehlen im Bericht einige wichtige Studien, eine Grafik wurde zweimal abgedruckt, und Zitate verweisen auf falsche Quellen. Trotzdem ist das Papier relevant, zeigt es doch, wo die eklatanten Schwachstellen der deutschen Corona-Politik liegen. „So gibt es noch immer kein nationales Forschungskonzept im Bereich Public Health (Öffentliche Gesundheit). Eine solch fachübergreifende Begleitforschung ist aber zwingend nötig, um Entscheidungen des Krisenmanagements auf eine bessere Wissensgrundlage zu stellen“, heißt es. Länder, die auf bessere Daten zurückgreifen können, wie Dänemark oder Großbritannien, haben solche Institutionen schon lange eingerichtet. Diese Daten zu sammeln, wäre allerdings zum Teil die Aufgabe des Chefs des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, und seiner Untergebenen. FDP-Vize Wolfgang Kubicki forderte nach der Veröffentlichung des Evaluationsberichts prompt Wielers Entlassung.

Bittere Kritik äußerten die Sachverständigen auch an der 2G-Regelung. Der Effekt von 2G oder 3G sei kurz nach einer Immunisierung hoch, lasse dann aber schnell nach. Insbesondere das von der Politik erhoffte Ziel, so mehr Leute in die Impfung zu treiben, lasse sich nicht belegen, erklärte Virologe Streeck in der Pressekonferenz zum Evaluationsbericht. „In allen Ländern, in denen 2G eingeführt wurde, hat es nicht den Nudging-Effekt gegeben, daß Menschen sich mehr haben impfen lassen.“

„Masken wirken!“, das müsse man so deutlich sagen, fügte Streeck hinzu. Daher könnten Masken ein wirksames Mittel der Pandemiebekämpfung sein. „Aber: Es gibt leider deutliche Unterschiede zwischen der Evidenz des Effekts der Masken aus kontrollierten Studien und dem Effekt in der Praxis.“ So würden Masken theoretisch sehr gut wirken, nur gebe es viele Probleme bei der korrekten Anwendung. Viele Masken schließen nicht richtig, sei es, weil sie zu oft getragen werden, wegen eines Bartes oder weil die Träger das Gefühl haben, nicht genug Luft zu bekommen, wie es mit FFP-2-Masken bei längerem Tragen häufig der Fall ist. Bei FFP-2 sehe man in der Realität jedenfalls nicht den erhofften Effekt. „Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken ist aus den bisherigen Daten nicht ableitbar“, schreiben die Experten.

Besonders kennzeichnend für die Arbeit ist auch die zweideutige Bewertung der Schulschließungen: „Die genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus ist trotz biologischer Plausibilität und zahlreicher Studien weiterhin offen“, erklären die Sachverständigen. Es gebe „keinen Zweifel, daß wenn wir unsere Kontakte reduzieren, wir auch die Ansteckungswahrscheinlichkeiten reduzieren“, meint Streeck. Das gilt auch für Lockdows. Kontaktreduktionen wirkten daher vor allem zu Beginn einer Pandemie gut. In welchem Ausmaß sie aber in puncto Schulschließungen tatsächlich zur Reduktion der Virusweitergabe beigetragen hätten, lasse sich nicht sagen.

Diese Maßnahme ist aber besonders relevant im Hinblick auf „nicht-intendierte Wirkungen“ oder auch Nebenwirkungen, wie sie die von der SPD für das Gremium vorgeschlagene Soziologin Jutta Allmendinger nennt. Hier sehe man eine Zunahme von Angst, Depressionen, Einsamkeitsgefühlen oder Körpergewicht, auch wenn man nicht mit letzter Sicherheit sagen könne, daß es die Schulschließungen waren und nicht andere gleichzeitige Effekte, die die Kinder beeinträchtigten. Allmendinger fordert daher: „Wir brauchen einen Rechtsanspruch auf ein Mindestmaß an sozialen Kontakten.“

Während also im Evaluationsbericht kein eindeutiges Ergebnis präsentiert wird, spricht sich der Epidemiologe Stöhr klar gegen Schulschließungen aus: Es gebe genügend Daten aus Deutschland, die zeigen, daß an Schulen nur wenige Weiteransteckungen geschehen. Wenn, dann würden eher Lehrer Kinder anstecken als umgekehrt. Das heiße für ihn: „Schulschließungen bringen nicht das Ergebnis, was man sich wünscht. Nämlich: Daß man verhindert, daß Kinder Vulnerable anstecken oder selbst schwer krank werden.“ Stöhr, der nicht an der Pressekonferenz teilnahm, hätte sich klarere Worte gewünscht, auch in vielen anderen Gebieten. „Es gibt einige Bereiche wie die Schulschließungen oder die Übersterblichkeit, wo man hätte prägnanter, sauberer sein müssen.“ Das Gremium hält auf der letzten Seite des Papiers den Hinweis fest: Seit der Einsetzung von Stöhr ab dem 10. Juni sei „nicht in allen Punkten Konsens erzielt“ worden.

Lauterbach insistiert: Gutachten dürfe „kein Bremsklotz“ sein

Was folgt nun aus dem Gutachten? Karl Lauterbach machte bei der Übergabe des Berichts bereits deutlich, daß er auf schnelle Absprachen in der Bundesregierung setzt. Er rechne mit einer „schweren Herbstwelle“. Die Verhandlungen zwischen ihm und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hätten bereits am selben Tag begonnen. Dabei würden die Analysen der Kommission natürlich eine wichtige Rolle spielen. Sie dürften jedoch „kein Bremsklotz“ sein, es gebe auch andere Parameter.

Die jetzige bundesweite Rechtsgrundlage für umfassende Corona-Maßnahmen läuft am 23. September aus. Bis dahin soll nach den Wünschen von Lauterbach eine Neufassung des Infektionsschutzgesetzes durch den Bundestag bereits abgesegnet sein. „Wir arbeiten konstruktiv und sehr schnell in Vertraulichkeit. Wir müssen für den Herbst gut vorbereitet sein“, mahnt Lauterbach. Der endemische Zustand sei in Deutschland noch nicht erreicht. 

An anderer Stelle zeigt der Minister eine recht erstaunliche Wandlung: Nach immerhin 2,5 Jahren Corona soll künftig genau festgehalten werden, wer mit und wer wegen Covid hospitalisiert ist, wie Lauterbach in der ARD-Sendung „Anne Will“ bestätigte. Das BMG wolle bis zum Herbst ein „Pandemieradar“ auf den Weg bringen, mit dem zeitnah wichtige Daten wie der Krankenstand in Krankenhäusern, die Zahl der Ansteckungen oder der Impfstatus erfaßt werden. Helfen soll zwischen September und November auch eine massive Impfkampagne der Bundesregierung, wofür weiter Geld in Strömen fließt.

Doch genau wie beim Evalutionsbericht sind auch beim Thema Impfen weiterhin zahlreiche Fragen offen. Die Evaluierungskommission hatte das strittige Thema Impfnebenwirkungen wohlwissend  ausgespart. Das solle die Ständige Impfkommision (Stiko) behandeln. Schließlich ändert sich mit dem 1. Oktober auch wieder der Impfstatus von Millionen Bürgern. Ab dann gelten nur noch Nachweise über drei Impfungen oder zwei Impfungen und eine Genesung als vollständiger Impfschutz.

Wie eine neue Impfkampagne geplant wird, was die Regierung nicht über Impfnebenwirkungen wissen will und welche Kosten in den vergangenen Jahren bereits entstanden sind, lesen Sie in der nächsten Ausgabe der JUNGEN FREIHEIT.





Wer saß in der Sachver-ständigenkommission?

Mit Klaus Stöhr stieß der einzige Epidemiologe des Gremiums erst spät hinzu

Jutta AllmendingerSoziologin

Werner BergholzPhysiker

Michael BrennerVerfassungsrechtler

Anne BunteGesundheitsamtsleiterin

Katharina Domschke (USA)Psychiaterin

Horst DreierStaatsrechtler

Christian Drosten (Mitglied bis zum 28.04.2022)Virologe

Klaus Stöhr (Mitglied seit dem 6. Juni 2022)Epidemiologe

Stefan HusterGesundheitsrechtler

Andrea KießlingGesundheitsrechtlerin

Thorsten KingreenGesundheitsrechtler

Heyo K. Kroemer (stellv. Vorsitzender bis 21.12.2021) Pharmakologe, Vorstandsvorsitzender der Charité Berlin

Rolf RosenbrockGesundheitswissenschaftler

Helga Rübsamen-SchaeffVirologin, Aufsichtsrat bei E. Merck KG

Christoph M. SchmidtWirtschaftswissenschaftler

Britta SiegmundKlinik-Direktorin

Hendrik StreeckVirologe

Jochen TaupitzMedizinrechtler und Bioethiker

Ute Teichert (Mitglied bis zum 26.1.2022) Fachärztin für öffentliches Gesundheitswesen

Foto: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (li.) und RKI-Präsident Lothar Wieler: Bittere Kritik äußerten die Sachverständigen an der 2G-Regelung. Die Immunisierung sei nur kurzfristig hoch, lasse dann aber schnell nach