© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Historische Konfrontation
Nato: Die westliche Verteidigungsallianz geht in die Offensive
Jörg Sobolewski

Die von vielen Nato-Ländern angestrebte Norderweiterung des Bündnisses um Schweden und Finnland ist international auf Kritik gestoßen. Neben deutlicher Kritik der Russischen Föderation äußerte sich die Volksrepublik China abwartend gegenüber dem Ausbau des Militärbündnisses. Unerwartet starke Kritik kommt jedoch aus dem Nato-Mitglied Türkei, dabei hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan am vergangenen Donnerstag noch verkündet, alle Streitpunkte mit den Regierungen der beiden Kandidaten ausgeräumt zu haben. Unter anderem sei vereinbart worden, daß Stockholm 73 als „Terroristen“ bezeichnete Kämpfer an die Türkei ausliefern werde. Das Land habe darüber hinaus versprochen, gegen die Aktivitäten der PKK, einer kommunistischen Terrorgruppe, vorzugehen. Das betreffe, so Erdoğan, sowohl die Finanzierung der Organisation als auch die Rekrutierung von Mitgliedern. 

Peking beschwert sich über „konfrontative“ Nato-Haltung

Davon will man auf skandinavischer Seite aber nichts mehr wissen, stattdessen verweist sowohl die schwedische wie auch die finnische Regierung auf die europäische Menschenrechtskonvention und betont, jede Auslieferung müsse „im Einklang mit nationalem und europäischem Recht stehen“. Die Vereinbarung mit der Türkei sei vielmehr eine „politische Übereinkunft“, keine „rechtliche“. 

Beobachter sehen darin ein entscheidendes Hindernis für Präsident Erdoğan, der zuvor verkündet hatte, die Türkei habe sich in „allen Punkten“ bei den Verhandlungen durchgesetzt. Denn für das türkische Staatsoberhaupt kommt der skandinavische Widerstand zur Unzeit. Amtsinhaber Erdoğan plant zur nächsten Präsidentschaftswahl in der Türkei wieder anzutreten, steht aber aufgrund der desolaten Wirtschaftslage im Land stark unter Druck. 

Die PKK und ihre Ableger sind in der Türkei aufgrund vieler Terroranschläge weithin verhaßt. Sollten die finnische und schwedische Regierung der türkischen Lesart der getroffenen Vereinbarung nicht nachkommen, werde die Türkei die „Ratifizierung des Beitritts im nationalen Parlament“ aufhalten, drohte Erdoğan daher nach dem Ende des Nato-Gipfels. 

Deutliche Kritik an der skandinavisch-türkischen Absprache kommt auch von internationalen Nichtregierungsorganisationen. Schweden und Finnland „hätten sich in eine humanitäre Sackgasse manövriert“, beklagt etwa der ehemalige Menschenrechtskommissar des Europarats und Funktionär von Amnesty International, Thomas Hammerberg. 

Angesprochen auf die Nato-Norderweiterung verwies ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums auf die Grundsätze des gegenseitigen Respekts vor Sicherheitsinteressen aller europäischen Mächte. Aus Sicht einiger Beobachter ein verklausulierter Hinweis auf die angespannten Beziehungen zwischen der Nato und der Russischen Föderation. Deutlich klarer formulierte Peking hingegen die Kritik an einem Positionspapier der Nordatlantik-allianz, in dem China als „systemische Herausforderung“ für das Bündnis bezeichnet wird. Dies sei „Mißinformation und konfrontativ“ wie der Sprecher betonte. China habe den Angriff der Nato auf Jugoslawien „nicht vergessen“, so das chinesische Außenministerium. Auch die Teilnahme von Südkorea und Japan stößt in Peking auf Unwillen, dies sei ein Versuch der „Destabilisierung“ Asiens. 

Regelrecht erbost reagierte die russische Regierung auf das Vorhaben des westlichen Blocks. Besonders der finnische Nachbar bekam die volle Breitseite der russischen Diplomatie zu spüren. Der Beitritt Finnlands werde die russisch-finnischen Beziehungen und damit auch die Stabilität in Nordeuropa „empfindlich stören“, so Außenminister Lawrow in einer Pressekonferenz. Man werde „als Vergeltung sowohl militärisch-technische als auch weitere Mittel in die Wege leiten um darauf zu reagieren“. 

Welche konkreten Schritte Moskau genau unternehmen wird, ist bislang nicht klar, der russische UN-Botschafter Dmitry Polyanskiy sprach von einer Neubewertung der beiden Länder in der russischen Lageanalyse, „es würde die Einschätzung beider Länder von neutralen in feindliche Staaten ändern“, so Polyanskiy. Schweden und Finnland könnten so zu „Zielen“ für russische Streitkräfte werden. Russische Politikexperten gingen im staatlichen Fernsehen noch weiter und halten selbst die Stationierung von Nuklearwaffen in der Exklave Königsberg für möglich. Die russische Empfindung, von der Nato „eingekreist“ zu werden, könne sich noch verstärken, so der Politikwissenschaftler Kirill Shamiev in einem Interview mit dem russischen Medienportal Meduza. Der Beitritt Finnlands zur Nato würde die Grenze zwischen dem Einflußbereich des Nordatlantikpakts und der Russischen Föderation um etwa 1.340 Kilometer verlängern. 

Unterstützung kommt hingegen vom künftigen Nato-Partner USA. Präsident Jo Biden sicherte beiden Kandidaten bereits zum jetzigen Zeitpunkt die volle Unterstützung der Vereinigten Staaten zu und versprach für eine zügige Ratifizierung des Beitritts im Senat zu sorgen. 

Jens Stoltenberg preist „Einigkeit und Entschlossenheit“ der Allianz

Neben dem Beitritt der beiden Länder einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Alliierten auf eine grundlegende Neuausrichtung der Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie der Nato, die eine Verstärkung der vorgeschobenen Verteidigungsanlagen, eine Aufstockung der Gefechtsverbände im östlichen Teil des Bündnisses, der Mission „enhanced Forward Presence (eFP), sowie eine Erhöhung der Zahl der hochverfügbaren Streitkräfte auf weit über 300.000 vorsieht. Vor allem die baltischen Staaten hatten sich immer wieder über eine zu geringe Truppenstärke der Allianz in der Region verärgert gezeigt. 

Zudem kamen die Staats- und Regierungschefs überein, mehr in die Nato zu investieren und die gemeinsame Finanzierung zu erhöhen. Parallel dazu billigten sie ein neues Strategisches Konzept. Darin wird die Vorgehensweise der Allianz gegenüber Rußland und anderen Bedrohungen, einschließlich Terrorismus, Cyberangriffen und hybriden Bedrohungen, dargelegt. Erstmals geht das Strategische Konzept nach Angaben der Nato auf die Herausforderungen ein, die von China ausgingen. 

„Wir stehen vor der ernstesten Sicherheitslage seit Jahrzehnten. Aber wir stellen uns der Herausforderung mit Einigkeit und Entschlossenheit“, betonte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.  Der Norweger dankte Spanien für die Ausrichtung des „historischen Gipfels“ und kündigte an, daß im nächsten Jahr ein Nato-Gipfel in Litauen stattfinden werde.

 Kommentar Seite 2

Foto: Ein Soldat des deutschen Einsatzkontingents der Nato-Kampfgruppe „enhanced Forward Presence“(eFP) in Litauen: Die „verstärkte Vornepräsenz“ soll erweitert werden