© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Das Trilemma der EZB
Geldpolitik: Zinsanstieg setzt die Hochschuldenstaaten unter Druck / Spaltung der Eurozone?
Dirk Meyer

Spätestens seit der außerordentlichen, nur Stunden zuvor angekündigten Ad-hoc-Sitzung des Zentralbankrats vom 15. Juni herrscht Nervosität im Frankfurter EZB-Tower. Was war geschehen? Angesichts der wachsenden Unsicherheit über die inflationäre Entwicklung in der Eurozone und des zögerlichen Handelns der Notenbank stiegen die Risikoaufschläge für Anleihen hochverschuldeter Euroländer stark an. Lag die Zinsdifferenz zu den als sicher geltenden Bundesanleihen bis Ende des vorigen Jahres noch bei etwa einem Prozentpunkt, so stieg der Aufschlag für Italien sprunghaft auf 2,5 Prozentpunkte an.

Das erinnerte an den Beginn der Eurokrise. Dort erreichten die Risikoaufschläge für Griechenland (April 2010), Irland (November 2010) und Portugal (April 2011) ein krisenhaftes Niveau. Die Erfahrungen zeigen, daß ein Land ab einem Zins­aufschlag von 4,5 Prozentpunkten auf eine sichere zehnjährige Staatsanleihe den Marktzugang verliert („skyrocket“). Anders ausgedrückt: Es droht Insolvenz. Nach dem Eingeständnis ihrer Präsidentin Christine Lagarde, die Inflation falsch eingeschätzt zu haben, steht die EZB vor einem Trilemma: Sie muß der Inflation entgegensteuern, den Kreditzugang der hochverschuldeten Eurostaaten offenhalten und zugleich das Verbot der monetären Staatsfinanzierung einhalten.

Neue Ideen gegen die Ausweitung der Risikoaufschläge für Anleihen

Gemäß Artikel 127 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) ist die EZB vorrangig der Geldwertstabilität verpflichtet. Hierzu müßte sie den Leitzins spürbar erhöhen, was insbesondere den Kreditzugang der hochverschuldeten Eurostaaten erheblich verteuert und langfristig gefährdet. So betrugen Ende 2021 die Staatsschuldenquoten für Griechenland 193 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), Italien 151, Portugal 127, Spanien 118 und Frankreich 113 Prozent. Als Schwergewicht stellt Italien mit Staatsschulden von 2,7 Billionen Euro einen die gesamte Eurozone existentiell gefährdenden Problemfall dar. Zwar ist die durchschnittliche Restlaufzeit der ausstehenden Anleihen mit gut sieben Jahren relativ lang, was ein akutes Liquiditätsproblem eher ausschließt.

Nach Berechnungen auf der Basis von EZB-Daten wird die drittgrößte EU-Volkswirtschaft aber neben einer geplanten Neuverschuldung von 115 Milliarden Euro dieses Jahr etwa 340 Milliarden Euro refinanzieren müssen – alles zu gestiegenen Kreditzinsen. Selbst im völlig unrealistischen Fall eines ausgeglichenen Haushalts würde die Staatsschuldenquote Italiens ab 2023 steigen, da die Durchschnittsverzinsung italienischer Staatsanleihen dann höher wäre als das prognostizierte BIP-Wachstum von 2,5 Prozent. Die Zinslast könnte dann nicht mehr durch das Wirtschaftswachstum finanziert werden. Ein weiteres Problem entsteht im italienischen Bankensektor, denn 422 Milliarden Euro (15,6 Prozent) dieser Anleihen sind im Bestand italienischer Geschäftsbanken, die bei entsprechenden Kursverlusten Wertberichtigungen vornehmen müßten und dadurch in Schieflage geraten könnten. Zudem könnte ihr Bestand an notleidenden Krediten aufgrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage zunehmen.

Dadurch, daß die EZB weiterhin und vermehrt italienische Staatsschulden aufkauft, wäre das Problem eigentlich gelöst. Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht am 5. Mai 2020 (2 BvR 859/15) hier einen Riegel vorgeschoben. Um nicht gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung zu verstoßen, also zu verhindern, daß die Notenbank ihnen das Geld „druckt“, darf zum einen die Ankaufobergrenze von 33 Prozent (Sperrminorität) nicht überschritten werden, und zum anderen muß die Verteilung der Ankäufe gemäß dem EZB-Kapitalschlüssel erfolgen. Damit sollen eine zinsbeeinflussende Marktmacht und eine fiskalpolitisch-selektive Bevorzugung verhindert werden.

Indem etwa 727 Milliarden Euro (26,9 Prozent) der italienischen Staatsschulden bei der Banca d’Italia und der EZB lagern, bietet die Ankaufobergrenze derzeit noch gewisse Spielräume. Allerdings haben Italien und weitere mediterrane Länder mehr eigene Anleihen bei der Notenbank eingelagert, als es der EZB-Kapitalschlüssel zuläßt. Die EZB arbeitet deshalb intensiv an einem „Anti-Defragmentierungsinstrument“. Die Wortwahl hat es in sich, denn „Fragmentierung“ deutet eine ungeordnete Aufspaltung an. Damit bestreitet die EZB indirekt, daß die Renditedifferenzen Ausdruck einer unterschiedlichen Bonität Italiens und Deutschlands sind.

Auch stellen sich einige Fragen: Ab welcher Zinsdifferenz soll eingegriffen werden? Jegliche Eingriffsschwelle mindert die Anreize zu einer verantwortungsvollen Schuldenpolitik, da Sanktionen des Marktes außer Kraft gesetzt werden. Soll die Eingriffsschwelle öffentlich bekannt sein – was Spekulationen eröffnet? Wird das Instrument an Auflagen geknüpft, wie es beim 2012 beschlossenen Outright Monetary Transactions-Programm (OMT) der Fall ist? Gerade Italien lehnt diese Bedingung kategorisch ab. Auch wäre dies ein Hinweis auf fiskalische Probleme, bei deren Lösung das Mandat der EZB überschritten würde.

EU-Gemeinschaftsschulden künftig die Regelfinanzierung?

Zudem wirkt ein weiterer Ankauf italienischer Schuldpapiere inflationär, und das ausgegebene Zentralbankgeld müßte durch Gegengeschäfte neutralisiert werden. So könnte die EZB aus ihrem Bestand deutsche Anleihen mit niedriger Rendite verkaufen. Allerdings würden die einhergehenden Kursverluste zu über 90 Prozent zu Lasten der Bundesbank und damit indirekt des deutschen Fiskus gehen. Deutschland würde für Verluste einstehen, um Italiens unsolide Haushaltspolitik zu stützen. Alternativ könnte die EZB eigene, relativ niedrig verzinste Schuldverschreibungen an Geschäftsbanken verkaufen, um die Geldmenge entsprechend den neu erworbenen italienischen Anleihen auszugleichen. Sie sind in den Regularien bereits vorgesehen – ursprünglich mit redlicher Absicht für andere Zwecke. Möglich wären auch Termineinlagen von Geschäftsbanken mit relativ kurzen Laufzeiten, die dann regelmäßig neu aufgelegt werden müßten.

Die geldpolitische Handlungsfähigkeit der EZB steht in Frage. Außergewöhnliche Instrumente beinhalten Gefahren eines Mißbrauchs. Die Währungsunion mutiert zu einer Geldannahmegemeinschaft mit national gesteuerter Geldemission als Ausdruck einer Spaltung der Eurozone. Ein zukünftiger Ausweg wären EU-Gemeinschaftsschulden der Staaten als Regelfinanzierung, wie sie bereits als Ausnahme in der Pandemie praktiziert wurden – die Fiskalunion ohne Souveränitätsverlust der Staaten würde Wirklichkeit.






Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.

Foto: EZB-Präsidentin Christine Lagarde bei Pressekonferenz in Frankfurt: Erstmals seit 2011 werden die Euro-Leitzinsen wieder etwas angehoben