© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Das Ende des einfachen Friedens
Staat und Gesellschaft: Ökonomische Leistungskraft, Wohlstand und Sicherheit sind auf Dauer nicht ohne ein Mindestmaß an politischer Intelligenz zu haben
Thorsten Hinz

Gut essen, ruhig schlafen und niemals allein sein – auf diese knappe Formel hat der Historiker Michael Stürmer die Wünsche und Erwartungen der Nachkriegsdeutschen gebracht. Die Übereinkunft zwischen Staat und Bürger lautete: Sicherheit plus Wohlstand gegen Loyalität. Es war das Resümee aus zwei verlorenen Weltkriegen, aus Millionen Toten, aus Bombennächten, aus dem Verlust von Haus, Hof und Heimat, aus Hunger, Kälte und Inflation. Frieden sollte sein und Sicherheit und Ruhe, und die gab es nur – auch das war das Fazit aus der Katastrophe –, wenn das mit seiner Geschichte, Geographie und Ausdehnung überforderte Deutschland, das für eine normale Mittelmacht zu groß, für eine Großmacht zu klein geraten war, sich in ein mächtiges Bündnis einfügte. 

Das galt in beiden deutschen Staaten, wobei die Bundesrepublik das bessere Los gezogen hatte. Die US-Protektion gewährte Schutz vor Stalin und seinen Nachfolgern; sie gestattete das Wirtschaftswunder und einen nie dagewesenen Wohlstand. Die Teilung des Landes, das Souveränitätsdefizit und der Oktroi der Siegernarrative wurden durch die Attraktion der amerikanischen Waren- und Massenkultur wettgemacht.

Die DDR-Realität war materiell bescheidener und stand unter dem Vorzeichen der Resignation. Die sowjetische Besatzung und der verordnete Sozialismus wurden als schicksalhafte Mächte hingenommen, die kulturelle Anziehung der Sowjet-union tendierte gegen null. Immerhin gab es als Ausguck das Westfernsehen und als Trostpflaster das Westpaket. Wer diese zwei deutschen Wirklichkeiten, die 1990 auf Westniveau notdürftig zusammengenagelt wurden, nur bespöttelt, macht es sich zu einfach. In einem Chanson des Mecklenburger Liedermachers Kurt Nolze von 1982 heißt es: „Das ist der einfache Frieden, den schätze nicht gering.“

Im Jahr 2022 wurde das Sicherheits- und Wohlstandsversprechen des Staates definitiv aufgekündigt, und die Einbindung der Bundesrepublik, die ihren Interessen dienen sollte, stellt sich als eine Kombination aus Selbst- und Fremdfesselung heraus, die ihr die Luft nimmt. Alles hängt mit allem zusammen. Ein Hegemonialkrieg in der Nachbarschaft, für den wir nichts können, wird mit aller Kraft zur ureigenen Angelegenheit gemacht, für die man Opfer zu bringen habe und gegebenenfalls frieren müsse. Zur Begründung wird sogar eine neue deutsche Kriegsschuld konstruiert. So wird außenpolitisch nachvollzogen, was in Fragen der inneren Sicherheit schon lange Usus ist. Stichworte wie ethnisch-kulturelle und religiöse Fragmentierung, No-go-Areas, Schwimmbäder-Exzesse, islamistischer Terror, Araber-Clans genügen zur Illustration.

Die Inflation und explodierende Energiepreise haben den jahrelangen, allmählichen Wohlstandsschwund in den Schweinsgalopp versetzt. Die offiziellen Armutsberichte verschleiern die Lage mehr, als daß sie sie erhellen, denn Ausländer, die gezielt in das deutsche Sozialsystem einwandern und ohne Beitragsleistung subventioniert werden, gehen gleichfalls darin ein. Die wirklich Betroffenen sind die aktiven oder ehemaligen Berufstätigen, Steuer- und Abgabenzahler, denen es immer schwerer fällt, ihren normalen Lebensunterhalt zu bestreiten und die der Altersarmut entgegensehen. Zudem leiden sie am Zerfall der öffentlichen Infrastruktur: Züge verspäten sich oder fallen aus; die medizinische Versorgung wird schlechter, weil Fachärzte abwandern und Medikamente nicht mehr lieferbar sind. 

Die „Einbindung“ wird nicht als Instrument eigener Interessenwahrung, sondern als moralischer Imperativ verstanden und zeigt ihren Pferdefuß: Zu den schlimmsten Inflationstreibern gehört die EZB, in deren mediterrane Geldpolitik sich Deutschland hat einbinden lassen. Deutschlands Wohlstand und industrieller Vorsprung hing mit der sicheren Energieversorgung auch aus Rußland zusammen, die mit Rücksicht auf das Nato-Bündnis gekappt wurde.

Ebenfalls verrückt und ins Bild passend: 20 Jahre nach Beginn des von den USA begonnenen Afghanistan-Krieges hat Deutschland die weltweit größte afghanische Diaspora. Geflüchtete Ukrainer haben heute in Deutschland denselben Anspruch auf Hartz IV wie deutsche Beitragszahler, die nach Jahrzehnten in die Arbeitslosigkeit geraten sind. Aus Eigeninteresse müßte Deutschland auf Friedensverhandlungen drängen, damit die Flüchtlingszahlen nicht noch mehr in die Höhe schnellen. Doch aus der halluzinierten deutschen Kriegsschuld ergebe sich nun mal, so der Super-Schwadroneur Robert Habeck, „eine größere Bringschuld in der Erwartungshaltung der Ukraine“.

Ökonomische Leistungskraft, Wohlstand und Sicherheit sind auf Dauer nicht ohne ein Mindestmaß an politischer Intelligenz zu haben. Dazu gehört die Fähigkeit, die eigenen von Fremdinteressen zu unterscheiden und gegeneinander abzuwägen. Trotz hyperventilierender Lügen- und Lückenmedien hat es an Information und Aufklärung nicht gefehlt. Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“, 2010 erschienen, wurde millionenfach verkauft, gelesen, diskutiert. Ein Anstieg des politischen Durchschnitts-IQ blieb dennoch aus. Das verständliche Ruhebedürfnis nach 1945ff. ist in die Sedierung des Selbsterhaltungstriebs übergegangen. Andernfalls hätte spätestens die Grenzöffnung 2015 zur Etablierung einer kraftvollen politischen Alternative geführt. Doch der rationale Diskurs wird zuverlässig durch das Orwellsche Schafsgeblöke „Vierbeiner gut, Zweibeiner schlecht“ verhindert. Ins Bundesdeutsche übersetzt lautet es: „Nazis wählen? Niemals!“ So läßt der biodeutsche Demos sich von seinem aufgeklärten falschen Bewußtsein schachmatt setzen.

Die Probleme sind nicht mehr steuerbar und auflösbar, ein Systemkollaps ist wahrscheinlich.  Wenn die Regierung den Firmen rät, Notstromaggregate zu beschaffen, um mögliche Ausfälle von Strom und Gas zu kompensieren, und die Bundesnetzagentur mittlerweile Totalausfälle in Erwägung zieht, dann drohen Dritte-Welt-Szenarien. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, deren Selbstverständnis um Begriffe wie Individualisierung, Unabhängigkeit, Pluralität, Selbstbestimmung, Interessenausgleich kreist, wenn lebensnotwendige Güter knapp und unerschwinglich werden, im Winter die Heizungen kalt bleiben, Mieten nicht mehr gezahlt werden können, die sozialen Sicherungsysteme bersten, die kritische Infrastruktur wegen Überlastung aussetzt? Wenn in einer Großstadt längere Zeit die nächtliche Wohnungs-, Hausflur- und Straßenbeleuchtung ausbleibt, schlägt die Stunde der Gangster.

Die vielbeschworenen zivilgesellschaftlichen Werte zählen dann im Handumdrehen nicht mehr. Verzweiflung schlägt in Empörung und Aggressionen um. Das Recht des Stärkeren, das Faustrecht, triumphiert. Auch die wokesten Individualisten erfahren dann, daß die materiellen und institutionellen Voraussetzungen ihrer Lebensentwürfe und Überzeugungen zerbröseln. Zu den Voraussetzungen gehören eine belastbare Infrastruktur, Rechtssicherheit, die Verläßlichkeit von Behörden, funktionierende Sozialsysteme, Geldstabilität. Wo nichts mehr klappt, gehen alle Kalkulationen über Bord. Und dann?

Wer einem Familiennetzwerk angehört, ist klar im Vorteil. Familien überstehen Extremsituationen besser als Einzelpersonen und Zufallsgemeinschaften; Blutsbande sind eine gute Voraussetzung für Solidargefühle. Doch Verse wie aus dem Lied von Kurt Nolze: „Wo ein Mann ist, soll eine Frau sein, daß das eins das andere wärmt“, lösen heute das Chorgeschrei steuerfinanzierter Antdiskriminierungsbeauftragter aus. An der Humboldt-Universität wurde gerade die Vorlesung einer Biologin abgesagt, die darstellen wollte, daß es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt, weil ein „Arbeitskreis kritischer Jurist*innen“ gegen die „unwissenschaftliche“ und „menschenverachtende“ These zu Demonstrationen aufgerufen hatte.

Solche dekadenten Eskapaden beschränken sich auf ethnische Deutsche. Sie verdoppeln den Vorteil traditioneller Ethnien und Kulturen im Land. Großfamilien können Masse organisieren und ihre Ansprüche nach außen geltend machen. Und es handelt sich nicht mehr nur um einzelne Clans, sondern um gewachsene Parallelgesellschaften, die gar nicht daran denken, sich in eine Mehrheitsgesellschaft einzufügen, deren Kraftlosigkeit sie spüren und die sich als Beutegesellschaft darbietet. Es gibt Gegenden, wo deutsche Gesetze – wenn überhaupt – nur noch unter Vorbehalt gelten. Die Annahme, daß die in Deutschland geborenen Al-Keishas oder Centecs bald so deutsch sein werden wie die um 1900 hier geborenen Krajewskis, Sadowskis oder Kowalskis, hegen nicht einmal mehr die verstiegensten der rotgrünen Ideologen.

Auf muslimischen Großbestattungen während der Corona-Restriktionen haben Clanmitglieder eindrucksvoll demonstriert, wie wenig ihnen staatliche Anordnungen bedeuten. Es wird ihnen ein leichtes sein, die Behörden unter Druck zu setzen und zu zwingen, ihre Versorgung in gewohnter Weise zu sichern, andernfalls sie sie selber in die Hand nehmen. Der organisierte Sturm eines Migrantenmobs am Gardasee in Italien, aber auch die zeitweilige Beschlagnahme der Reichenenklave Sylt durch Punker geben einen Vorgeschmack. Bündnisse zwischen den unterschiedlichen Mobsorten und überraschende Querfronten sind wahrscheinlich.

Der Staat wird sich noch mehr als bisher beim Normalbürger schadlos halten, der es duldungsstarr hinnimmt, wenn man ihn schröpft. Geschulte Propagandisten werden Steuererhöhungen und Enteignungen als längst fällige Solidarmaßnahmen rechtfertigen, um strukturelle Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen auszugleichen. Schon wird für neue Corona-Maßnahmen im Herbst getrommelt, die eine Handhabe bieten werden, öffentliche Proteste zu unterbinden. Die Bearbeitung von Maßnahmekritikern durch Polizei und Justiz und Boykott-Maßnahmen gegen regierungskritische Blogs weisen bereits in diese Richtung. 

Die Suppe wird dünn, die Bettdecke klamm, die Freunde haben uns eingehegt. Der einfache Friede war eine gestundete Zeit, die nun durch den vor 30 Jahren von Hans Magnus Enzenbergers prognostizierten molekularen Bürgerkrieg abgelöst wird – mit der Besonderheit, daß der Staat selbst Partei ergreift. Die Aufgabe lautet, jenseits davon Strategien zur Selbstrettung zu denken und zu organisieren. 

Foto: Rettungsboot: Die Lage ist hoffnungslos, nicht ernst. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!“ ermutigt Friedrich Hölderlin in seiner 1808 erstmals veröffentlichten Hymne „Patmos“