© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Der Tod ist ein Schauspieler aus Worms
Germanischer Veitstanz: Die Schriftstellerin Felicitas Hoppe hebt den alten Nibelungenschatz von neuem
Felix Dirsch

Die Rezeption der Nibelungensage verlief über Jahrhunderte bewegt und widersprüchlich. Die bis heute schwer zu klärende Überlieferungsgeschichte, in deren Kern drei Handschriften (Hohenems-Münchener Handschrift, St. Gallener Handschrift, Donaueschinger Handschrift) mit rund 2.400 Strophen stehen, machte die Bahn für eine vielschichtige Interpretation frei. Zur Zeit der Romantik avancierte diese Heldenepik als Variante einer Nationalmythologie, die nach Meinung mancher Dichter wie Johann J. Bodmer und Johann J. Breitinger einen Ausdruck der deutschen Volksseele darstellen soll. Auch der Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel spielte bei der Neuaneignung des Stücks eine nicht unwesentliche Rolle. Eine „Teutsche Ilias“ wurde gesucht – und gefunden.

Fundgrube für vielfältige kulturelle Aneignungen

Ob diese Entscheidung klug war, daran durfte man auch vor evidenten politischen Mißbräuchen aus guten Gründen zweifeln. Eine nationale Erzählung soll Sinnstiftung ermöglichen – und gute Bedingungen für eine breite Identifikation der Bevölkerung herbeiführen. Doch ein „bedrückend negatives Gesellschaftsbild“ (Joachim Bumke), geprägt von Mord, Haß, Intrige, Rache und Machtgier von Anfang bis Ende der Handlung, verdeutlicht früh die Grenzen eines solchen Unterfangens. Das katastrophale Ende machte eine Anknüpfung in der jeweiligen Gegenwart praktisch unmöglich. Schon Zeitgenossen zeigten sich mehr als verwundert darüber, daß Hermann Göring die im Kessel von Stalingrad eingeschlossenen Kämpfer im Völkischen Beobachter an den heldenhaften Kampf der Nibelungen erinnerte. Der Untergang der 6. Armee wurde so ungewollt antizipiert. Nur wenige dürften verstanden haben, daß die Anspielungen des Reichsmarschalls wohl darauf abzielten habe, durch das Blut der Opfer den Fluch gelöst und den Bann getilgt zu haben. Dem Sieg stand nunmehr – gemäß einem solchen Denken – nichts mehr im Weg. Daß er ausblieb, bedeutete auch das Ende des Nibelungenmythos als Kulturdenkmal.

Der (öfter übertriebenen) nationalen Hochschätzung der „Nibelungentreue“ folgte fast zwangsläufig eine gewandelte Sicht nach 1945. So entlarvte beispielsweise der Dramaturg Heiner Müller diese Volkstugend 1978 als gesamtdeutschen Verblendungsakt.

Über vier Jahrzehnte später erweist sich die Thematik, die man heute üblicherweise jenseits aller Instrumentalisierungsversuche in ihrem historischen Kontext liest, immer noch als Fundgrube für vielfältige kulturelle Aneignungen. Daß der Zugang zum Nibelungenlied mittlerweile ein anderer ist (und auch sein muß) zeigt nicht zuletzt die Neuerzählung durch die Schriftstellerin Felicitas Hoppe.

Die 61jährige Georg-Büchner-Preisträgerin nähert sich der alten Problematik vor allem mit den Mitteln der Ironie, des Witzes und der Doppeldeutigkeit. Schatz ist für die Autorin vieles: Goldschatz, immaterieller Sagenschatz, aber auch die Umschreibung des Lieblings als Schatz. Hoppe springt gerne hin und hin. Die wechselhafte Überlieferungsgeschichte rät zu Distanz. Der inhaltliche Sprengstoff wird dadurch entschärft, daß die Verfasserin sich nicht mit dem Text unmittelbar beschäftigt, sondern eine Wormser Theateraufführung kommentiert. Der Untertitel „Ein deutscher Stummfilm“ ist als Hommage an den Regisseur Fritz Lang zu verstehen. Die unterlegten Tafeln, die im Roman auftauchen, erscheinen gleich Wegweisern, die helfen, sich im Gestrüpp des Textes zurechtzufinden.

Die Navigation, die – mit zwei Pausen – von den nordischen Räumen über den Rhein und die Donau bis zum Schwarzen Meer gelangt, fordert dem Leser einiges ab. Hoppes Art der Erzählung ist gewöhnungsbedürftig. Sie gleicht einem Strom, in dem es kaum Haltepunkte gibt. Der Stoff mag auf den ersten Blick als ewig wirken: Blutbäder, schöne Frauen, Liebende, ein Goldschatz, an den schwer heranzukommen ist, grausame Morde, deren Vergeltung auf dem Fuße folgt und einiges mehr. Nicht zufällig wird auf den US-Filmregisseur Quentin Tarantino hingewiesen, der mit „Kill Bill“ (2003/2004) ein modernes Rache-Epos vorgelegt hat.

Kriemhild und Brunhild stehen im Bannkreis toxischer Männlichkeit

Wie die Handlung insgesamt wenig zur Identifikation im postheroischen Zeitalter einlädt, sind auch die Protagonisten dazu kaum geeignet. Traditionell gelten Siegfried und Hagen von Tronje, der Treue, als Lieblingsfiguren. Hoppe spitzt deren Rollen mit dem Gegensatzpaar Kampfsportler und Denksportler zu. Dieser Kontrast überrascht indessen. Außer Tapferkeit haben sie wenig Liebenswertes zu bieten. Muß man die bekannten weiblichen Gestalten mögen? Auch Kriemhild und Brunhild stehen im Bannkreis toxischer Männlichkeit und höfischer Gewaltstrukturen, wie sie brutaler kaum sein könnten. Brunhild fungiert als Trophäe für denjenigen, der sie im Kampf besiegt. Im Kontext moderner Genderstudien dürfen beide Frauenfiguren wohl als extreme Ausprägung „männlicher Frauen“ gelten, denen heute eher Ellenbogen-Karrieristinnen entsprechen.

Betrachtet man Hoppes Erzähltechnik, fällt auf, daß ihr Roman in zwei Hälften geteilt ist: Die erste stellt die Aufführungsmodalitäten heraus, die zweite nimmt sich in den Pausen der Schauspieler an, die zu ihren Rollen interviewt werden. Das Frage-Antwort-Spiel ist vielleicht der beste Teil der Schrift. Jetz läuft die Verfasserin zur Höchstform auf. Sie kann allerlei Gegenwartsanliegen hineinschreiben. Selbst der Wunsch von Frauen, in Männer verwandelt zu werden, wird in einem Gespräch mit dem jungen Giselher-Darsteller erörtert. Er träumt demnach, zu seiner blutrünstigen Schwester zu mutieren.

Der Roman endet mit der „Klage“. In diesem Punkt lehnt er sich wieder näher an gängige Originalversionen an. Diese versuchen eine Art erste Interpretation des Untergangs der Burgunder. Damit verbunden ist eine Rechtfertigung Kriemhilds und ihre Treue zu Siegfried. Man spürt den christlichen Hintergrund der Erörterungen. Die ursprüngliche „Klage“ versucht einen Blick auf den Morgen zu werfen, den das Gemetzel stark verdunkelt. Diesem Duktus folgt die Neuerzählerin. Folglich ist viel von Buße, Gewissen, Schweigen und Verzweiflung die Rede. Etzel, der Trauernde, bleibt übrig. Er muß sich den Weg durch ein Meer von Trümmern bahnen. Es wird gerätselt, wie die vielen Toten unter die Erde kommen. Plötzlich taucht Brunhild am Ende wieder auf. Sie scheint das große Jagen überlebt zu haben, und sie fügt sich scheinbar in ihr Schicksal mit Anstand und Sitte, wie es sich in der höfischen Gesellschaft gehört. Freude, die die „Klage“ nach Meinung etlicher Interpreten eröffnen soll, ist dabei kaum zu bemerken.

Schlußendlich ist Hoppes Mut zu bewundern, eine so alte (und für viele abgedroschene) Geschichte wieder neu zu erzählen. Um ein rauschendes literarisches Fest zu veranstalten, reichen ihre narrativen Mittel aber nicht aus. Die Lektüre regt jedoch an, sich erst- oder abermals mit den Hintergründen eines klassischen Stücks aus der deutschen Mythenwelt zu beschäftigen.

Felicitas Hoppe: Die Nibelungen. Ein deutscher Stummfilm. Roman. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, gebunden, 256 Seiten, 22 Euro

Foto: Nibelungenfestspiele auf einer Freilichtbühne vor dem Wormser Dom (Archivfoto 2018): Ursula Strauss in der Rolle als Burgherrin Brunhild sitzt völlig verdreckt auf der Bühne (l.), Bruno Cathomas als König Siegmund (o.) Die Inszenierung der Nibelungensage „Siegfrieds Erben“ wurde von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel geschrieben, Regie führte Roger Vontobel.