© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Viel zu späte Einsichten
Die Konferenz von Lausanne beseitigte die 1919 in Versailles geschaffene Knute der Reparations-zahlungen / Die Entlastung konnte die Weimarer Republik jedoch nicht mehr stabilisieren
Stefan Scheil

Der treffende Satz wird Alexis de Tocqueville zugeschrieben, dem legendären Analytiker von „Demokratie in Amerika“ und Französischer Revolution: „Ein marodes politisches System ist niemals mehr gefährdet als in dem Moment, in dem es sich zu reformieren versucht.“ Er gilt in übertragener Weise nicht nur für innenpolitische, sondern auch für außenpolitische Verhältnisse, wie die Konferenzen in Genf und Lausanne vor neunzig Jahren zeigten. 

Das Jahr 1932 sah eine außergewöhnlich marode Lage der internationalen Politik. Etwa zehn Jahre zuvor hatte man beim Ende des Ersten Weltkriegs gleich eine ganze Reihe von Verträgen geschaffen, die sich inzwischen als unpraktikabel erwiesen hatten. Sie stellten zugleich sinnlose Strafaktionen gegen die Besiegten und wertlose Blankoschecks für die Sieger dar. Dazu gehörten neben den Bestimmungen einer einseitigen Abrüstung Deutschlands auch dessen Verpflichtung zu ursprünglich unbegrenzten Schadenersatzzahlungen an die Kriegsgegner. Es gab keine Möglichkeit, solche Zahlungen abzuwickeln, ohne die Weltwirtschaft insgesamt stark zu beschädigen. Davor hatten Finanzexperten schon 1919 während der Vertragsverhandlungen gewarnt und recht behalten. Nun steckten Anfang der 1930er Jahre alle in der Weltwirtschaftskrise, auch wegen dieser Strafzahlungen. 

„Der Deutsche zahlt alles!“ galt in Frankreich als geflügeltes Wort

So konnte es weder bei den Rüstungsfragen noch den Finanzen weitergehen, diese Einsicht hatte sich verbreitet. Also tagte in Genf seit Anfang 1932 eine internationale Abrüstungskonferenz, die für den allseitigen Waffenbestand einen neuen Kompromiß auf Augenhöhe vorbereiten sollte. Gleichzeitig war hinter den Kulissen das Tauziehen über die Frage im Gang, wie mit den deutschen Schadenersatzzahlungen weiter verfahren werden sollte. Seit dem Sommer 1931 galt für sie ein „Moratorium“, das der amerikanische Präsident Herbert Hoover ins Spiel gebracht hatte. Sie waren also einstweilen ausgesetzt, aber nicht endgültig. 

Ende Juni 1932 kam daher in Lausanne eine weitere internationale Konferenz zusammen, um über das künftige Verfahren mit den Finanzen grundsätzlich zu entscheiden. Ähnlich wie im Rüstungsbereich handelte es sich aber um einen gefährlichen Knoten aus Begehrlichkeiten und politischen Gefahren. „Der Deutsche zahlt alles!“ galt in Frankreich als geflügeltes Wort. Wie sollte die Pariser Regierung zu Hause erklären, daß sie hier einem Ende zugestimmt hatte, selbst wenn sie guten Willens gegenüber Berlin gewesen wäre? Was sollte mit den Schulden geschehen, die Frankreich und Großbritannien kriegsbedingt in den USA aufgehäuft hatten? Und in Berlin haperte es natürlich ebenfalls mit dem guten Zahlungswillen. Die Fakten auf ihrer Seite wissend, setzte die deutsche Regierung statt dessen auf die endgültige Streichung aller alliierten Forderungen. 

Dieses Ziel war an sich nicht neu, aber es reiste eine veränderte deutsche Regierung Richtung Lausanne. Nach dem Sturz des mehrjährigen Amtsinhabers Heinrich Brüning hieß deren Kanzler seit neuestem Franz von Papen, ein Wechsel, der auf die grundsätzliche Problematik der Situation des maroden Staatensystems hindeutete. Es konnte nicht weitergehen wie bisher, aber es gab keine Einigkeit darüber, welchen Platz Deutschland in einem reformierten Weltsystem erhalten sollte. 

Um die Dringlichkeit dieser Frage zu betonen, hatte die Regierung Brüning bisher gern auf die innenpolitische Lage verwiesen. Man sei unter starkem Druck des nationalen Lagers und benötige dringend Zugeständnisse zur Beruhigung der deutschen Öffentlichkeit. Besonders die Nationalsozialisten stünden vor der Tür der Macht, deren Parteichef Hitler im Frühjahr 1932 den amtierenden Reichspräsidenten bereits in die Stichwahl gezwungen hatte. In der Reichskanzlei lagen andererseits Informationen vor, wonach die NSDAP im wesentlichen vom westlichen Ausland finanziert werde, aber man gedachte nicht, öffentlich davon Gebrauch zu machen.

Zum einen würde es dann einen innenpolitischen Skandal geben, der für die NSDAP sehr großen Schaden bedeuten konnte. Zum anderen hätte man es mit einem internationalen Aufruhr zu tun, der in Frankreich und Großbritannien erhebliche innenpolitische Wirkung entfaltet hätte. Wurde es öffentlich bekannt, daß die dortige Waffen- und Rüstungsindustrie in die deutsche Innenpolitik eingriff, mußten drastische politische Veränderungen die Folge sein. Die NSDAP stellte also eine Bedrohung für die innere Ordnung dar, aber sie schien auch nützlich zu sein. Die soziale und nationalistische Unruhe in Deutschland ließ sich als außenpolitisches Druckmittel einsetzen. 

Man drohte mit einer Regierungsbeteiligung der NSDAP

Offenbar entschied man sich in Berlin deshalb dafür, zu schweigen und die Situation zu lassen, wie sie war, jedenfalls so lange, bis die Konferenz von Lausanne vorüber war und dort über die Streichung der Reparationen entschieden worden wäre. Am 7. Juni 1932, Heinrich Brüning war seit einer Woche als Kanzler gestürzt, sprach der neue Regierungschef Franz von Papen bei Brünings bisherigem Staatssekretär in der Reichskanzlei vor, Hermann Pünder. Er wollte ihn zur Mitarbeit in der neuen Regierung bewegen. Pünder lehnte das ab und bezeichnete den Regierungssturz als eine „ganz frivole Handlung“, die nicht in erster Linie Papen zu verantworten habe, wie der überhaupt nach seiner Meinung bloß „eine Marionettenfigur in dem scheußlichen Spiel“ sei. Vor allem aber: „Die Kugel müsse bis nach dem Lausanne-Komplex in der Flinte bleiben. Die Regierung müsse auf dieser Konferenz auf die große nationale Welle in ihrem Hintergrund hinweisen können.“ Die Kugel, das war die Drohung mit einer nationalsozialistischen Regierungsbeteiligung. 

So geschah es, und am Ende brachte die Konferenz von Lausanne tatsächlich den Schluß des internationalen Zahlungskarussells der Nachkriegszeit. Das Deutsche Reich sollte mit einer Restzahlung von drei Milliarden Goldmark von der Zwangsjacke des Young-Planes befreit werden, der noch 1929 eine Reparationsschuld in Höhe von umgerechnet 36 Milliarden Reichsmark festsetzte, die bis 1988 zu zahlen gewesen wäre. Die Reform von Lausanne rettete das gefährdete politische System allerdings auch diesmal nicht, sie beschleunigte seine Auflösung.

Foto. Der deutsche Außenminister Konstantin von Neurath, Reichskanzler Franz von Papen, die französische Delegation mit Ministerpräsident Edouard Herriot und George Bonnet und die britischen Delegierten mit Ministerpräsident James Ramsay MacDonald, German Martin, Neville Chamberlain und Paul Hymans (sitzend, v.l.n.r.) in Lausanne im Juli 1932: Die heikle Finanzierung der NSDAP aus dem westlichen Ausland stand als nicht thematisierter „weißer Elefant“ im Raum