© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Alles auf eine Karte
Unternehmen „Blau“ im Juli 1942: Der zweite Feldzug gegen die Sowjetunion in den Kaukasus und an die Wolga
Dag Krienen

Der am 28. Juni 1942 begonnene zweite Feldzug gegen die Sowjet­union, das Unternehmen „Blau“ (später umbenannt in „Braunschweig“), stellte die letzte große strategische Initiative Hitlers im Zweiten Weltkrieg dar. Der Vorstoß zur Wolga und in den Kaukasus hat in Verbindung mit der gleichzeitigen Offensive Rommels in Richtung des Suez-Kanals (JF 25/22) immer wieder zu Spekulationen darüber geführt, ob dahinter nicht sogar die Idee eines Zangenangriffs über den Kaukasus und über Ägypten in den Nahen Osten und nach Indien als der Herzkammer des britischen Empires stand. Mit ihr liebäugelte Hitler zwar für die Zeit nach der Durchführung von „Blau“, doch für 1942 gab er dem Kampf gegen die Sowjetunion die Priorität. Seine maßgebliche Weisung für die Kriegsführung Nr. 41 vom 5. April 1942 gab als zentrales Ziel vor, „die den Sowjets noch verbliebene lebendige Wehrkraft endgültig zu vernichten und ihnen die wichtigsten kriegswirtschaftlichen Kraftquellen soweit als möglich zu entziehen.“ Zu diesem Zweck galt es, „alle greifbaren Kräfte zu einer Hauptoperation im Süd-Abschnitt der Ostfront zu vereinigen mit dem Ziel, den Feind vorwärts des Don zu vernichten, um sodann die Ölgebiete im kaukasischen Raum und den Übergang über den Kaukasus selbst zu gewinnen“. 

Der Wehrmacht gelangen keine größeren Einkesselungen mehr

Die Verbesserung der eigenen Öl- und Treibstoffversorgung, um einen langen Konflikt gegen Briten und US-Amerikaner besser durchstehen zu können, war ein Ziel. Das andere war die endgültige Ausschaltung der Sowjetunion als nennenswerter militärischer Gegner, indem man sie von ihren wichtigsten Rohstoffquellen abschnitt. Nach deutschen Berechnungen wären nach der Eroberung des Donezk-Beckens und des Kaukasusraumes der Rest-Sowjetunion nur noch 7 Prozent ihrer Mineralöl-, 4 Prozent ihrer Koks-, 19 Prozent ihrer Kohle-, 34 Prozent ihrer Eisenerz- und 5 Prozent ihrer Manganerzquellen verblieben. Die Beherrschung des Raumes zwischen Wolga und Baku am Kaspischen Meer hätte zudem die Lieferung westlicher Waffen und Materials über den Iran und die Wolga erheblich erschwert. Dann wäre es der Roten Armee mangels Treibstoffs und US-Jeeps kaum mehr möglich gewesen, ihre in großer Zahl produzierten Panzer zu großen, weitreichenden Offensiven zu verwenden und ihre materialintensive Rüstung auf Dauer aufrechtzuerhalten. 

Auf deutscher Seite reichten allerdings die Ressourcen nach der Winterkrise 1941/42 nicht aus, um das gesamte Ostheer wieder auf Vordermann zu bringen. Nur die Verbände der für den Angriff vorgesehenen Heeresgruppe Süd konnten personell und materiell wieder angriffsfähig gemacht werden, die Divisionen der Heeresgruppen Nord und Mitte erhielten nur das Nötigste, um als „fähig zur Verteidigung“ gelten zu können. Die 9 Panzerdivisionen der Heeresgruppe Süd wurden zum Beispiel mit jeweils drei Panzerabteilungen ausgestattet, die vier motorisierten Infanteriedivisionen, die zwei SS-Divisionen und das Elite-Infanterieregiment Großdeutschland erhielten jeweils eine eigene Panzerabteilung zugeteilt. Den zehn Panzerdivisionen der Heeresgruppen Nord und Mitte verblieb hingegen jeweils nur eine einzige Panzerabteilung. Zudem erhielten nur die Divisionen im Süden (sowie die zwei in Afrika) die jeweils mit langen Kanonen ausgestatteten neuesten Exemplare der Panzerkampfwagen III und IV, die einen gegenüber dem sowjetischen T-34 deutlich gesteigerten Kampfwert besaßen. Ähnliches gilt für die Masse der neuen schweren 7,5-Zentimeter-Panzerabwehrgeschütze, Sturmgeschütze und die Heeresflakabteilungen mit den auch in der Panzerabwehr bewährten 8,8-Zentimeter-Flak sowie Stukas und Schlachtflieger.

Insoweit gut gerüstet, begann die Heeresgruppe Süd am 28. Juni 1942 ihren Vorstoß nach Osten. Nach der vorangegangenen schweren Niederlage der Roten Armee bei Charkow (JF 20/22) schritt der deutsche Vormarsch ging zunächst im raschen Tempo voran. Allerdings ging das sowjetische Oberkommando vom starren Halten von Gelände, das den Deutschen bislang immer wieder das Einkesseln ganzer Armeen ermöglicht hatte, zu weiträumigen Rückzügen über. Zwar büßten die Sowjets auch dabei in großen Mengen Soldaten und Material ein, konnten aber meist den Kern ihrer Kampfverbände retten, weil der Wehrmacht keine größeren Einkesselungen mehr gelangen. Hitler glaubte hingegen aufgrund des raschen Vormarsches und der krassen Unterschätzung der sowjetischen Rüstungsleistungen durch den Geheimdienst (siehe auch den Beitrag „Fall Blau: Die Wehrmacht verkalkuliert sich“ von Alexander Graf auf JUNGEFREIHEIT.de vom 24. Mai 2022), daß die Rote Armee allmählich der Auflösung entgegen ginge.

Ging die deutsche Planung anfangs davon aus, zuerst mit allen Kräften zur Wolga bei Stalingrad vorzustoßen und erst danach in den Kaukasusraum einzudringen, wollte der Diktator, gegen die Überzeugung von Generalstabschef Halder, nun beide Vorstöße gleichzeitig durchführen. Am 9. Juli 1942 wurde die Heeresgruppe Süd in die zwei Gruppen A und B aufgespalten und der ersteren der Angriff auf Rostow, das „Tor zum Kaukasus“, befohlen. Nach der Eroberung der Stadt am 23. Juli erließ Hitler noch am selben Tage die Weisung zur Kriegsführung Nr. 45, die zur endgültigen Aufspaltung der deutschen Offensive in zwei verschiedene Richtungen führte. Die Heeresgruppe B sollte Stalingrad erobern und anschließend nach Astrachan an der Mündung der Wolga in das Kaspische Meer vorstoßen. Die Heeresgruppe A hingegen sollte in den Kaukasus und von dort entlang bis nach Baku am Kaspischen Meer vormarschieren und zugleich auch die Ostküste des Schwarzen Meeres besetzen.

Angesichts der Grenzen der Offensivkraft des deutschen Ostheeres, die schon den Vorstoß mit einem Schwerpunkt zu einem riskanten Unternehmen machte, erwies es sich nach dessen Aufspaltung auf zwei Schwerpunkte, deren Richtungen um gut neunzig Grad auseinandergingen, als endgültig überfordert. Zwar erzielten beide Heeresgruppen bis Mitte August noch große Raumgewinne, die allerdings das Problem der Treibstoffversorgung, das schon zuvor immer wieder zu Verzögerungen beim Vormarsch gesorgt hatte, weiter vergrößerten. 

In Richtung Stalingrad gelang es der 6. Armee zwischen dem 9. und dem 11. August im Donbogen bei Kalatsch noch einmal, zwei sowjetische Armeen einzukreisen und weitgehend zu vernichten (57.000 Gefangene). Einem Panzerkorps gelang am 23. der Durchstoß bis zur Wolga knapp nördlich von Stalingrad. Doch danach blieb nur noch der frontale Angriff gegen die Stadt, der immer mehr zu einem zähen Ringen ohne große Fortschritte geriet. Auch die Kaukasusoffensive konnte anfangs noch Erfolge erzielen. Das kleinste, von den abrückenden Sowjets allerdings gründlich zerstörte kaukasische Ölgebiet bei Maikop wurde Mitte August erobert. Anfang September wurde die der Krim gegenüberliegende Meerenge von Kuban überwunden und der wichtige Schwarzmeer-Hafen Novorossijsk erobert. Doch kam der weitere Vormarsch entlang der Küste nach Süden nicht mehr voran. Auch am Nordrand des Kaukasus blieb der Vormarsch schließlich kurz vor dem Ölgebiet von Grosny stecken. Der Durchstoß durch das Gebirge zu den sowjetischen Schwarzmeer-Häfen im Süden gelang – trotz des Heißens der Reichskriegsflagge durch deutsche Gebirgsjäger auf dem höchsten Gipfel des Kaukasus, dem Elbrus – indes nicht mehr. In der zweiten Septemberwoche wurde deutlich, daß sowohl in Rußland als auch in Nordafrika – die letzte Offensive der Achse bei El Alamein war Anfang des Monats gescheitert – die weitgesteckten strategischen Ziele nicht mehr zu erreichen waren. 

Hitler scheiterte durch seine Hoffnung auf die „große Lösung“

Die „Operation Blau“ ist oft als Zeichen der Hybris Hitlers kritisiert worden. Das Abschneiden der Sowjetunion von ihren zentralen Rohstoffquellen und Verbindungen zu den westlichen Verbündeten war jedoch strategisch durchaus ein sinnvolles Ziel. Ob es angesichts der Kräfteverhältnisse überhaupt erreichbar war, ist schwer zu beantworten. An der Ostfront wie im Mittelmeerraum wurde jedenfalls die Option einer engeren Konsolidierung des eigenen Machtbereiches (Verbesserung des Frontverlaufes im Mittelabschnitt der Ostfront und Eroberung Leningrads / Einnahme Maltas) zugunsten einer „großen Lösung“ (Stoß zur Wolga und in den Kaukasus / Stoß nach Suez) verworfen. Im Falle der Operation Blau ließ sich Hitler durch die Hoffnung auf die „große Lösung“ sogar dazu verführen, die eigenen Offensivkräfte auf zwei Schwerpunkte aufzuteilen. Man war sich in beiden Fällen der Begrenztheit der eigenen Ressourcen bewußt, aber ebenso der Tatsache, daß nur die jeweils „große Lösung“ hier wirklich Abhilfe schaffen und einen auch auf lange Sicht „blockadefesten“ Raum schaffen konnte, der die Achsenmächte in die Lage versetzt hätte, dem Ansturm ihrer Feinde für längere Zeit zu widerstehen. Die jeweilige „kleine Lösung“ hätte hingegen zwar die Abwehrfähigkeit des schon beherrschten Raums für eine gewisse Zeit verbessert, aber die globalstrategische Unterlegenheit nicht wirklich aufgehoben und die schlußendliche Niederlage nur verzögern können.

1942 setzte man in Afrika und in Rußland deshalb noch einmal alles auf eine Karte. Am Ende blieben die Truppen der Achse in beiden Fällen auf halbem Weg stecken, in exponierten Positionen, wo sie wenig später vernichtenden Gegenangriffen ihrer Feinde ausgeliefert waren.

Foto: Deutsche Infanterie stößt im Sommer 1942 zur Wolga vor: Grenze der Offensivkraft erreicht