© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Berlin, du bist viel zu flach geraten
Wahl-Chaos: Waren die Pannen in der Hauptstadt vermeidbar? Ja, meinen Experten und stellen dem Senat ein schlechtes Zeugnis aus
Christian Vollradt

Wer sehr jungen Nachwuchs hat, weiß ein Lied davon zu singen: In Sekunden kann ein Kinderzimmer ins Chaos gestürzt werden; aber wieviel gutes Zureden oder wie viele Machtworte, wieviel Zeit und Mühen kostet es, wieder eine halbwegs akzeptable Ordnung herzustellen? So ähnlich verhält es sich mit den Folgen jenes Sonntags im September, an dem der Urnengang für Bundestag und Abgeordnetenhaus in der deutschen Hauptstadt als Berliner Chaoswahl unrühmlich in die Geschichte einging. 

Tausende verärgerter Wähler – und ein über die Stadtgrenzen hinaus in die Grundfesten erschüttertes Vertrauen in eine funktionierende Demokratie. Noch ein gutes Dreivierteljahr später sind mittlerweile drei Institutionen mit den Aufräumarbeiten beschäftigt: das Berliner Landesverfassungsgericht, der Wahlprüfungsausschuß des Bundestags und eine Expertenkommission, die vergangene Woche ihren Bericht über die peinliche Pannenserie vorgelegt hat.

Und was das 21köpfige Gremium dem – damaligen – Senat ins Stammbuch schreibt, ist alles andere als schmeichelhaft. Wobei die Fachleute schon zu Beginn klarmachen, es sei nicht um eine „präzise Aufarbeitung der Pannen und Fehler“ gegangen, denn dazu fehlten „die Mittel und die Möglichkeiten“. Daher habe man sich darauf beschränkt, eine Ursachenanalyse des „Wahlchaos“ aufzustellen, damit dies bei künftigen Wahlen vermieden werden könne.  

Vor Ende September wird wahrscheinlich nicht entschieden

Viele der Probleme am Wahltag seien „durch gravierende Mängel und Versäumnisse in der logistischen Planung und Vorbereitung“ absehbar gewesen. Zu wenige Wahlkabinen hätten lange Schlangen geradezu heraufbeschworen. Auch seien die Wahllokale nicht rechtzeitig mit Unterlagen bestückt worden. Andernfalls wäre frühzeitig bemerkt worden, daß aus der Druckerei zum Teil falsch deklarierte Wahlzettel geliefert wurden. „Wären ausreichend korrekte Stimmzettel vorhanden und die Kapazität an Wahlkabinen ausreichend gewesen, wäre der 26. September 2021 ein für Berliner Verhältnisse ziemlich normaler Wahltag geworden“, so das Urteil der Experten. „Daß es nicht so kam, war in der Rückschau vermeidbar.“ Boing, das saß.

Schuld am Chaos waren nicht die 38.000 am 26. September vergangenen Jahres eingesetzten Ehrenamtlichen, sondern eher die fehlende „Einbeziehung der personellen Ressourcen in den Behörden“. Fazit auch: Das Kuddelmuddel in den Bezirken habe deren Überforderung bewiesen. Künftig müßten Wahlen berlinweit einheitlich organisiert „und dazu unter anderem die Landeswahlleitung in ihren Kompetenzen gestärkt werden“. I-Tüpfelchen bei der Pannenproduktion: der zeitgleich stattfindende Berlin-Marathon samt zahlreichen Straßensperrungen. Das sei „demokratiepolitisch problematisch“ gewesen, „Großereignisse dieser Art und Wahlen sollten nicht am gleichen Tag stattfinden. 

Der Wahlprüfungsausschuß des Bundestags wird mit seiner Entscheidung, ob – und wenn ja, in welchem Umfang – die Bundestagswahl in Berlin wiederholt werden muß, wahrscheinlich erst noch das Urteil des Landesverfassungsgerichts abwarten. Die Obleute aus den Fraktionen der Ampel-Koalition sollen sich bereits dafür ausgesprochen haben, in 400 der insgesamt 2.300 Berliner Wahllokale erneut an die Urnen zu rufen. Die oppositionelle Union sprach sich – damit dem Votum des Bundeswahlleiters folgend – für eine komplette Wahlwiederholung in Berlin aus. 

Zudem soll in den meisten Fällen nur die Zweitstimmen-Wahl wiederholt werden. Ausnahme könnte der Wahlbezirk Reinickendorf sein, wo die frühere Staatsministerin Monika Grütters (CDU) nur mit gut 1.500 Stimmen Vorsprung vor dem SPD-Kandidaten Torsten Einstmann das Direktmandat gewonnen hatte. Vor Ende September dürfte keine Entscheidung gefallen sein. Es ist also damit zu rechnen, daß die Parlamente bereits ihren ersten Legislaturperioden-„Geburtstag“ feiern, wenn eventuell ein – mutmaßlich ziemlich kleiner – Teil der Wähler erneut über ihre Zusammensetzung abstimmen darf. 

Aber das kennt man ja auch aus dem echten Leben: Die kleinen Racker hauen schon wieder ordentlich auf den Putz, wenn die entnervten Eltern noch dabei sind, die Hinterlassenschaften vom Vortag zu beseitigen.