© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Aufatmen der Woche
Sie sind dann mal weg
Christian Vollradt

Der Sturm hat sich gelegt, die Wogen sind geglättet. Einheimische und Urlauber können aufatmen: Sylt ist noch einmal davongekommen. Denn sie sind weg. Nein, nicht die Punks, die Deutschlands Paradies der Reichen und Schönen dank Neun-Euro-Ticket heimsuchten. Die Frauen und Männer mit den bunten Stachelfrisuren und Nieten-Lederjacken – irgendwie voll retro, seufz – sollen ja noch in Westerland rund um den inzwischen gesperrten Brunnen mit der Dicken Wilhelmine dem Dosenbier zusprechen. Echte Sorgen um die Ruhe auf dem Eiland hinter dem Hindenburgdamm mußte man sich eher wegen der Hochzeit des Bundesfinanzministers am vergangenen Wochenende machen. Christian Lindner ehelichte daselbst eine junge Springer-Journalistin (nach vorheriger Scheidung von einer älteren Springer-Journalistin). Wobei Sylt nur zweite Wahl war, nachdem aufgrund der angespannten Gesamtlage die ursprüngliche Destination Toskana aufgegeben wurde. Nicht nur die üblichen Boulevardmedien versorgten uns nun beinahe minütlich mit Wasserstandsmeldungen über das Brautpaar und seine Gäste. Wer einschwebte und wie (Friedrich Merz eigenhändig im Privatflieger, Olaf Scholz laut seinem Sprecher überhaupt nicht aus der Luft, die Braut im Porsche 911 Targa, auch retro, seufz), und wo man feierte (in einem ehemaligen Dünen-Kiosk). Wellen schlug auch, daß die in der berühmten Keitumer Seemannskirche St. Severin Getrauten beide nicht Mitglied der Kirche sind, was normalerweise die Inanspruchnahme solch einer Kasualie ausschließt. Ob die seelsorgerliche Ausnahmegenehmigung mit einer Spende erleichtert wurde? Liberale sparen ja gern Steuern und zahlen für Dienstleistungen lieber selbst. Mit Sylt lag Lindner überdies politisch  genau richtig. Bekannte doch schon Ernst von Salomon, hier liege seine „Zuflucht, wenn die Zeiten mulmig waren“.